Anne hatte sich und Julie möglichst bequeme Kleidung aus dem Koffer gesucht. Sie hatte weniger eingepackt als sie dachte, es sah nur dadurch mehr aus, dass alles in Eile hineingeworfen wurde und es nun einen unordentlichen Berg bildete. Sie fand darin zwei Teile eines alten, ausgeleierten Jogginganzuges, die sie an Julie weitergab und sich selbst mit einem weiten Pullover zufrieden gab.
In dem kleinen Bad, das Anne bereits kannte wusch sie sich das Gesicht ab. Grüne, erschöpfte Augen sahen ihr entgegen, die Strähnen waren ihr zu allen Seiten aus dem Knoten gerutscht und es war eine Erleichterung ihn zu öffnen. Julie ging es nicht besser, sie wusch sich vorsichtig das getrocknete Blut weg und begutachtete ihren Brustkorb, während sie aussah als würde sie gleich los weinen. Ihre ganze Seite war mittlerweile dunkelblau und als sie unter aufkommenden Tränen ihre gebrochene Rippe ertasten wollte krümmte sie sich zusammen und jaulte auf. Anne konnte den Anblick kaum ertragen und sie musste sich auf die Lippe beißen, um nicht selbst einen Schmerzenlaut von sich zu geben. Als Julie noch einmal tasten wollte nahm Anne ihre Hand und schüttelte den Kopf. „Wir gehen morgen ins Krankenhaus. Mach es jetzt nicht noch schlimmer als es ist und versuch es erstmal zu ertragen.", sagte Anne so verständnisvoll wie sie noch konnte. Julies Hand zitterte, aber sie nickte und schluckte sichtlich. Anscheinend schien sie Annes Vorschlag zu akzeptieren, den Anne in keinster Weise zu erfüllen wusste. Es tat ihr so leid, dass sie Julie nicht sofort helfen konnte, aber sie wusste ja nicht mal, wie sie überhaupt ein Krankenhaus bezahlen sollten, geschweige denn überhaupt erst dahin kommen sollte ohne als Minderjährige erkannt und von der Polizei aufgegabelt zu werden. Das alles sah wie eine ziemlich missliche Lage aus, in der sie es ablehnte Julie noch mehr zu beunruhigen, indem sie ihr das logischste nicht in Aussicht stellte. Aber innerlich fühlte Anne sich unglaublich hilflos und unsicher. Wie es ihr also trotzdem gelang ein Lächeln aufzusetzen war ihr vollkommen fraglich.
Als sie mit ihrer Katzenwäsche fertig waren bedeutete Anne Julie das Bad schonmal zu verlassen und zu schauen, ob Stefan das Wohnzimmer schon hergerichtet hatte. Sie tat wie gesagt, da auch Julie sich dringend nach einem Bett oder generell eine Schlafmöglichkeit sehnte. Das gab Anne einen Moment allein und endlich die Gelegenheit, ganz für sich zusammenzubrechen. Kaum hatte Julie die Tür des Bades geschlossen, schossen die Tränen hervor. Und es tat gut, endlich nicht mehr stark sein zu müssen. Anne weinte stumm, während sie sich an die Kacheln mit dem schönen Muster aus Muscheln lehnte. Auch, weil sie keine Zusätzliche Aufmerksam erregen wollte. Sie wollte einfach allein sein, von niemandem beobachtet, nur für sich selbst loslassen. Vor Julie wollte sie ihre Verzweiflung und Angst nicht zugeben und bisher gab es keinen ruhigen Moment wo sie innehalten konnten. Erst jetzt. Erst hier konnte sie das alles endlich rauslassen. Der Verlust ihres Zuhauses, die neue Verantwortung für Julie und ihre Verletzungen, ihre eigene Verzweiflung und die Angst, Henry könnte sie selbst hier wie durch ein Wunder finden, waren nur ein paar der Dinge, die Anne belasteten.
Weinend ließ sie sich zu Boden sinken und legte das Gesicht in die Hände. Es tat gut. Bis... die Tür aufgemacht wurde. Eilig wandte sie in einem ersten Instinkt das Gesicht ab, damit Stefan oder Ju nicht ihr Gesicht sah. Stille breitete sich aus, in der Anne nicht wagte den Kopf in Richtung Tür zu drehen. Wenn ihr Gesicht schon vom weinen gerötet war, so färbte es sich nur noch etwas dunkler. Gott, was musste Stefan jetzt denken? Aber warum sagte er denn nichts? War er zu entsetzt von ihrem Anblick? Konnte er sich nicht dazu durchringen rückwärts wieder aus dem Bad zu gehen? Der Moment zog sich länger, in denen bittere Grabesstille herrschte. Sekunden - oder waren es Minuten? - in denen Anne fast schlecht wurde vor Verlegenheit.
Ohne Worte ließ sich die Person ungeschickt neben Anne nieder und legte ihr einen Arm um die Schultern, um sie näher zu sich zu ziehen. Anne widerstrebte das, aber sie fast keine Kraft den Arm fortzudrücken. Stattdessen versteifte sie sich wie ein Brett und rückte nicht näher ran, um zu zeigen dass sie keine Gesellschaft und keinen Trost wollte. Doch die Person störte das überhaupt nicht, sie seufzte leise und lehnte den Kopf an ihren. So verweilten sie schweigend, auf dem Fußboden, bis Annes Tränen auf ihren Wagen halbwegs getrocknet waren und sie die Reste unauffällig wegwischte. Sie erkannte Derren an seinem Geruch, der sie sofort dazu verführte, die Nase in seine Kleidung zu drücken, um ihm näher zu sein.
DU LIEST GERADE
Soldiers Scars #PlatinAward
General Fiction„Krieg... Krieg macht dich zu einem Menschen der du nicht sein willst. Er zerfrisst dich von innen nach außen, bis nichts mehr von deinem alten Ich übrig ist." Derren McConnell ist gerade mal 22, als er für zwei Jahre nach Vietnam in den Krieg gesch...