Kapitel 41 - Worte

220 19 2
                                    

Anne konnte nicht recht fassen was da passierte. Sie wollte etwas sagen, aber ihre Lippen waren wie taub. Sie spürte Stefans Kuss noch immer brennend auf ihrem Mund. Der Kuss war hart und unliebsam gewesen, ganz und gar nicht so, wie sie sich ihren ersten Kuss vorgestellt hatte. Aber viel schlimmer als das, war Derrens Reaktion gewesen. Er hatte so wütend gewirkt, auf Stefan und auf sie. Als er den Wintergarten verließ, nachdem er Anne noch einen tiefen, verletzten Blick zugeworfen hatte, der ihr das Herz zerrissen hatte, waren alle Dämme in ihr gebrochen. Und sie hasste Stefan dafür, was er getan hatte. Sie hasste ihn so sehr! Doch Stefan strich sich nur die Kleidung wieder glatt und hielt ihr dann beinahe unbekümmert ein weißes Stofftaschentuch hin. Ganz so, als hätte er das alles geplant. Er wirkte mit sich und der Welt zufrieden, lächelte sogar halbherzig. Anne schenkte ihm einen abgrundtief verachtenden Blick, riss ihm das Taschentuch unsanft aus der Hand und ging Derren nach. Sie musste versuchen das richtig zu stellen, bevor Derren noch etwas vollkommen falsches von ihr dachte. Und so ließ sie Stefan ohne weitere Worte links liegen. Ihr wäre sowieso nichts nettes eingefallen, was noch zu ihm hätte sagen können.

Ihr Herz klopfte schneller, als sie die Küche mit eiligen Schritten durchquerte, die fragenden Blicke der beiden Eltern wie eine Last im Nacken. Sie konnte sich jetzt keine weiteren Gedanken machen, was sie wohl gerade denken mochten, es würde sie nur in ihrem spontanen Entschluss stören. Und sie wusste jetzt schon, dass sie sich später umso mehr dafür schämen würde, was für einen eigenartigen Eindruck sie hinterlassen hatte, indem sie verheult und noch immer weinend, aber mit wütendem Blick hinter Derren her rannte. Anne ignorierte die beiden also vollkommen und hastete zu der Glastür. Derren war kurz zuvor in einem Zimmer am Ende des Flurs verschwunden, dessen Tür sich gerade schwungvoll schloss, als Anne die Küche verließ. Beiläufig wischte sie sich mit dem Taschentuch die Tränen weg, wobei ein schmutziger Streifen Make-up in dem Weiß hängen blieb und wahrscheinlich in ihr ganzes Gesicht verschmierte, aber Anne achtete nicht weiter darauf. Es gab jetzt andere Dinge, die wichtiger für sie waren. Zum Beispiel, dass Derren nicht mehr wütend auf sie war, wenn sie erklären konnte was passiert war.

Unsicher blieb Anne vor Derrens geschlossener Tür stehen. Sie zögerte. Was tat sie eigentlich hier? War sie nicht gekommen, um zu versuchen es besser zu machen und nicht schlimmer? Stefan hatte sie in diese Lage gebracht, er hatte sie genötigt her zu kommen. Und jetzt? Derren hatte jedes Recht wütend auf sie zu sein. Er sollte sie anschreien und ihr vorwerfen, dass sie ein verlogenes, dummes Stück war und sie mit Stefan zur Hölle fahren konnte. Anne hatte es verdient. Wäre sie nur einfach wieder gegangen, als Stefan ihr von seinem tollen Plan erzählt hatte. Sie hätte doch ahnen können, dass er irgendwas vorhatte. Irgendwas, was Derren tief verletzten würde. Aber nein, stattdessen war sie treudoof in die Falle gelaufen, wie ein kleines Mädchen, dem man Süßigkeiten versprach.

Tief durchatmend nahm Anne sich neuen Mut und versuchte sie etwas zu beruhigen, bevor sie den nächsten Schritt machte. Vorsichtig klopfte sie an der Tür. Keine Reaktion. Wie zu erwarten. Wieder klopfte sie, stärker diesmal. Und wieder gab es keine Reaktion darauf. Mit zusammengepressten Lippen atmete sie tief ein und legte dann die Hand auf die Türklinke.

Langsam öffnete sie die Tür und kam in ein dämmerig dunkles Zimmer auf dessen Boden die schwachen, ungeraden Lichtstreifen strandeten die es durch die Schlitze in dem unordentlich vernagelten Sonnenschutz aus Holz gab. Anne musste sich erst einen Augenblick an die Lichtverhältnisse gewöhnen, ehe sie leise die Tür hinter sich schloss und nach Derren Ausschau hielt. Das Zimmer war nicht besonders groß und nahezu leer. Es gab keine Dekoration oder andere Dinge, die dem Raum Charakter geben konnten. Alles war neutral und irgendwie tot, als würde hier gar keiner leben. Die Regale waren leer, die Wände nackt und das Bett ordentlich in schwarze Laken gehüllt.

Als erstes entdeckte Anne den verwaisten Rollstuhl, der wie ein böses Omen in der Nähe der Fenster stand. Beunruhigt ging sie einen Schritt darauf zu, als sie Derren gleich dahinter an die Wand gelehnt sitzen sah. Er hatte den Kopf gesenkt, sodass sie sein Gesicht nicht sehen konnte. Mit wenigen Schritten war sie bei ihm, der Herz schlug ihr bis zum Hals. Vorsichtig setzte sie sich mit etwas Abstand ihm gegenüber und sah ihn an. Er blieb stumm, rührte sich nicht und gab insgesamt kein Anzeichen dafür, dass er Anne wahrgenommen hatte. Zitterig vor Aufregung schluckte Anne mehrmals, um ihre Stimme wiederzufinden. „Es ist nicht so wie du denkst..." Sie merkte selbst, wie dämlich sie sich anhören musste. „Ich wollte das nicht. Ich weiß nicht, was in Stefan gefahren ist.", versuchte sie zu erklären und scheiterte kläglich. Sie seufzte leise. Gott, wie weinerlich sie sich anhörte. Anne hasste es, wenn ihre Stimme so zitterte wie jetzt, aber sie war nicht in der Lage, etwas dagegen zu tun. „Es tut mir leid, dass das passiert ist! Stefan hat mich dazu gezwungen. Er hat mich eingeladen, aber er sagte mir nicht, dass er mich als seine angebliche Freundin eingeladen hat. Das bin ich nämlich nicht! Und ganz sicher werde ich das auch niemals sein! Spätestens nach dem, was er heute gemacht hat kann er froh sein, wenn ich überhaupt noch ein Wort mit ihm rede.", ruderte Anne unsicher weiter, als könnte das die Situation irgendwie entschärfen und schluckte dann unsicher. Derren hatte den Kopf gehoben und sah sie nun mit leerem Blick an. Keine Emotion entsprang diesen Augen, sie sahen Anne nur mit müdem Interesse an. Keine Fragen, keine Anklagen. Anne versuchte ihre Unsicherheit zu überspielen, die sie mit jeder Sekunde mehr packte. Und immer wieder fragte sie sich: Was mache ich hier? Wie in Dauerschleife. Wieder und wieder und wieder. Derren schien darauf zu warten, dass sie fortfuhr, oder er starrte einfach durch sie hindurch auf einen dunklen Fleck, den es nicht gab. „Ich bin wegen dir hier. Stefan dachte, ich könnte dir helfen, deshalb hat er mich eingeladen. Aber stattdessen... habe ich alles nur noch schlimmer gemacht.", sagte Anne traurig, schniefte neue Tränen weg und senkte nun ihrerseits den Blick. Sie konnte Derrens Ausdruck in den Augen nicht mehr ertragen. Anne wollte ihn gar nicht sehen, so kalt und abwesend, als wäre schon gar nicht mehr hier. Stefan hatte recht, es war schlimm, und das war vermutlich nur die Spitze des Eisbergs. Wie krank Derren wirklich war konnte sie nicht in diesen paar Stunden herausfinden.

Ihre stummen Schluchzer ließen sie beben. Sie wollte nicht weinen, nicht hier und jetzt. Aber es brach einfach aus ihr heraus. Der ganze Tag hatte schon mäßig angefangen. Bis sie sich von Zuhause rausschleichen konnte, weil Henry die Tür wie ein Wachhund blockierte waren angespannt Minuten vergangen. Die vorangegangene Diskussion über das erfundene Treffen mit Freunden zu dem Henry Sie kurzentschlossen nicht hingehen lassen wollte, mal abgesehen. Dann Stefan mit seinem grandiosen Plan und wie er sie einfach geküsst und sie festgehalten hatte wie seine Leibeigene. Anne konnte nicht mehr. Sie wusste nicht was sie noch tun sollte. Derren musste sie jetzt sicher hassen und seine Eltern dachten sich auch ihren Teil und würden sie möglicherweise das nächste Mal nicht zur Tür rein lassen. Das nächste Mal... Wenn es denn je eines geben würde.

„Es tut mir leid, dass ich hier so eine Szene mache.", entschuldigte Anne einmal mehr und rügte sich selbst innerlich dafür, dass sie das so oft schon gemacht hatte an diesem Tag. Sie ging sich selbst damit auf die Nerven. Am besten sie sagte gar nichts mehr für heute. Dann konnte sie auch nichts falsches mehr sagen. Sie wischte sich mit zitternder Hand die Tränen ab. „Besser, ich gehe jetzt.", meinte sie und wollte gerade aufstehen, als Derren sich endlich rührte. Mit einem festen Ruck zog er sie zu sich zurück und bettete ihre Kopf an seine Brust. Sein Puls war etwas beschleunigt, sein Atem war ruhig. Anne schluckte wie erstarrt und atmete zitternd seinen Geruch ein. Er roch gut, irgendwie holzig und warm mit einer unverkennbaren Note, die Anne nicht beschreiben konnte.

Seine Arme umschlangen sie sanft, ganz anders als Stefan zuvor hielt Derren sie nur ganz leicht, sodass sie nicht das Bedürfnis hatte von ihm wegzurücken. Ihre Wange lag auf dem weichen Stoff seines Shirt und die Wärme, die seine Haut ausstrahlte war ungemein tröstlich. „Ich bin froh das du hier bist.", erklang seine Stimme rau und vibrierend an ihrem Gesicht. Unwillkürlich entstand ein Lächeln auf ihren Lippen, welches unter den Tränen wie ein Lichtschimmer wirkte. Sie legte nach einigem Zögern die Arme um seinen Oberkörper und genoss den Moment. Ihr eigener Herzschlag wurde etwas ruhiger, die Aufregung, die sie bis jetzt immer begleitet hatte fiel nach und nach von ihr ab. Alles in Anne fühlte sich mit einem Mal leichter an. Sie wollte nicht, dass diese Umarmung jemals endete.

Soldiers Scars #PlatinAwardWo Geschichten leben. Entdecke jetzt