Kapitel 28 - Die letzte Nacht

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Danach redete ich mit meinen Eltern noch über dieses und jenes. Über Stefans neues Mädchen, die er nun als wirklich feste Freundin vorgestellt und sogar schon zum Dinner eingeladen hatte, was eigentlich so überhaupt nicht seine Art war. Oder über Vaters Beinahezusammenstoß mit einem jüngeren Herren, dessen Ehefrau gerade ebenfalls im Krankenhaus lag und seinen vierten Sohn zur Welt brachte. Mehr oder weniger belanglose Information, die mich nicht länger beschäftigte, als das Gespräch darüber zusammen kam, aber ich wahrte ein interessiertes Gesicht. Trudy scheuchte meine Eltern schließlich zum Abendessen hinaus und belästigte mich ihrerseits kurz mit dem neusten Tratsch der Schwesterschaft. Doch da ich noch weniger Interesse an ihrem Geschnatter, als an der geschmacklich nicht zu unterschätzenden Hühnersuppe zeigte, trollte sie sich bald um sich nach einem interessierteren Gesprächspartner umzuschauen. Eigentlich war sie wirklich herzensgut, aber außer Trasch schien sie nichts aufregendes in ihrem Leben zu haben. Wenn ich mit ihr redete kam es mir vor, als sauge sie jedes meiner Worte auf um es später in anderem Kontext einer neuen Person zu erzählen.

Die Nacht, die darauf folgte war schlaflos. Ich fand keine Ruhe, selbst die Dämonen konnten mich in diesem unruhigen Zustand nicht erreichen und mich mit ihren Gedanken, Bildern einer Fuerersäule terrorisieren. Das war aber auch das einzige Positive, was in dieser Nacht passierte. Alles andere in mir drückte sich angespannt zusammen und obwohl ich an gar nichts dachte, mein Kopf praktisch leer war, war ich aufgewühlt. Diese Entlassung rückte mit jedem lautlosen Ticken der Uhr, die mir meine Mutter dagelassen hatte, näher. Und ich freute mich auch sehr darauf, aber irgendwas drückte mir trotzdem auf die Brust. Dieses Etwas verhinderte, dass ich lächelte oder meine Freude nach außen trug, dass sie so stark wurde, dass ich mich jetzt, wo alles vorbei war endlich entspannte. Ich starrte in die Dunkelheit des Zimmers, aber ich sah nichts. Nichts, nicht im Sinne von zu Dunkel um zu sehen, es war einfach nichts da. Ich konnte keinen Gedanken, kein Bild hervorholen um mich abzulenken. Und dennoch hatte ich das Bedürfnis aufzustehen und rumzulaufen - naja wenigstens irgendwas zu tun, als hier zu liegen.

Ich hielt es nur noch ein paar Minuten aus die weiße Decke mit meinem leeren Blick zu durchbohren, dann zuckte ich spontan aus dem Bett hoch, warf die Bettdecke von mir und reckte mich müde. Es war kurz vor zwei Uhr, mitten in der Nacht und leise wie in einem Grab. Ich seufzte matt, knipste das Licht auf dem Tisch neben meinem Bett an und griff meinen Rollstuhl. An diesem Dämmerlicht warfen die Sachen unheimliche Schatten an die Wände, wie lebendige Monster. Ich achtete jedoch nicht weiter auf die Schatten, sondern setzte mich in meinen Rollstuhl und rollte ins angrenzende Bad. Ich wusste nicht, warum ich genau hierhin wollte, die Tür hinter mir schloss und ein unangenehmes, weißes Deckenlicht einschaltete. Aber genaugenommen ließ ich mich eigentlich schon die ganze Zeit von wagen Ideen und einem spontanen Gefühl leiten. Mein Körper würde schon wissen was er tat. Den Blick in den Spiegel vermied ich als ich das kalte, weiße Waschbecken ergriff. Ich war so müde, aber auch so unruhig, ich wollte schreien, um diese Unruhe loszuwerden. Irgendwas musste ich tun, sonst würde ich noch verrückt werden. Oder... noch verrückter, als ich es ohnehin schon war. Es war wie Insekten unter meiner Haut, die mich verrückt machten, ein Gefühl der Beklemmung in meiner Brust aufbauten. Alles war unangenehm, der Geruch nach Desinfektionsmittel, der Rollstuhl, die Kälte des Waschbeckens.

Ohne nachzudenken, ich konnte ja eigentlich überhaupt nicht denken in dem Moment, tastete ich mit der Hand hinter das Waschbecken und berührte mit den Fingerspitzen etwas glattes. Die Scherbe. Sie war noch da! Ein Schauer gefolgt von einer Gänsehaut überzog meinen Körper. Aus keinem bestimmten Grund bekam ich die Scherbe zu fassen und zog sie langsam hervor, sodass ich sie sehen konnte. Sie war mit angetrocknetem Blut bedeckt, das ein netzartiges Muster darauf bildete, dass eine groteske Anziehung auf mich auswirkte. Irgendwie schön, fand ich leicht lächelnd und starrte die Scherbe minutenlang einfach nur an. Als würde sich in ihren scharfen Kanten mein Leben abzeichnen, durchzogen von einem roten Faden. Einem blutigen Band, welchen alles in ein vorher und ein danach einteilt.

Halb verrückt, halb erschwarzte Augen blickten mich in der trüben, fadenhaften Spiegelung an, die Lippen zu einem leichten Lächeln verzogen. Alles in diesem Spiegelbild sagte mir, ich sei verrückt, vollkommen ertrunken in einem Meer von Dämonen. Ja, vielleicht war es wirklich das was ich sah. Diese menschliche Hülle, verzerrt zu der Maske eines Dämons, denn sie hatten Derren, der ich einmal war, restlos verschlungen. Ich musste demnach tot sein. Oder ICH war der Dämon? Diese Erkenntnis machte ungeahnten Sinn vor meinem geistigen Auge. Es schien so richtig, so sinnvoll vor mir zu Liegen, diese Wahrheit. Mit großen Augen meinte ich zu verstehen, endlich, alles zu verstehen und sogleich kam mir der einzige logische Gedanke, den ich mit meinem schwachen Verstand nur hätte ziehen können. „Derren muss befreit werden...", flüsterte ich heiser, ungläubig. Absolut sicher, was ich jetzt zu tun hatte, nahm die Scherbe fest in die Hand und rammte sie mir ohne jedes Zögern seitlich in den Oberarm. Der scharfe Schmerz brannte durch meinen Körper, Blut tropfte zu Boden. „Derren muss befreit werden!", sagte ich nun laut und kräftiger, zog die Scherbe wieder heraus und rammte sie gleich wieder hinein. Ich unterdrückte einen Schrei, merkte Tränen auf meinem Gesicht. Freudentränen? Wich der Dämon? Ich wiederholte mich und stach zu. Wieder und wieder und wieder. Es tat so höllisch weh, aber musste es nicht wehtun, wenn ein Dämon entwich? Es war doch gut! Es war...

Die Scherbe rutschte mir ungewollt aus der Hand, das Blut daran hatte sie schwer zu fassen gemacht und zerschellte in tausend Einzelteile auf dem Boden, zwischen Blut und Tränen. So laut klingend zerbarst das Glas, dass ich hart zusammenzuckte und mich keuchend über das Waschbecken beugte. In Erwartung von etwas schrecklichem spannte sich mein Körper an und ich begann zu zittern, während mir abwechselnd kalt und warm wurde. Sekunden lang hörte ich nur mein schweres Atmen, das Zittern meiner Muskeln und mein rauschendes Blut. Mein Blick war getrübt, verschwommen und in meinem Kopf entstand ein durchdringendes Rauschen. Doch es blieb ruhig, es geschah nichts, die Bilder und Erinnerungen schossen nicht auf mich ein, wie ich es erwartet hatte.

Der Moment verstrich, meine Atmung und mein Herz beruhigten sich, die Umgebung wurde wieder klar. Ich schluckte hart und schloss erschöpft die Augen, während ich den Kopf auf meine Arme legte und einfach nur atmete. Die Ruhe war Balsam für meine Seele. Jedenfalls solange, bis der Schmerz mich mit einer Wucht einholte, die mich ins Waschbecken kotzen ließ. „Au...", jammerte ich weinerlich wie ein kleiner Junge und hustete winselnd. Es tat weh, als hätte ich versucht mir meinen Arm abzutrennen. So hell und beißend, dass es bis in meinen Bauch strahlte.

Wie aus einem schlechten Traum betrachtete ich mir meinen geschundenen Arm, zitterte unter Würgen nach einmal und sah dann in den Spiegel wie ein Wiedererwachter. Und da war kein Dämon, nur noch ich, der aussah wie ein Wrack und mein dünnen, wirres Haar, das mir an der schweißnassen Stirn klebte. Ich saugte tief die Luft durch die Nase ein und betrachtete mich noch einen Augenblick absolut nüchtern. Das wird wieder, hauchte eine zarte Stimme in meinen Gedanken, die ich zunächst nicht recht zuordnen konnte. Das wird wieder. Ich wusste das es nicht real war, aber die Stimme kannte ich. Meine Mutter? Kurz senierte ich darüber, als mir ihr Name in den Sinn kam. Es war Annes Stimme, die ich hörte. Auch wenn sie nur in meinem Kopf war, linderte sie den Schmerz und die Verwirrung in der ich mich verloren hatte fast augenblicklich. Das wird wieder...

Ich atmete noch einmal durch, reinigte zitternd das nötigste mit einem Haufen Toilettenpapier und stieß mich dann vom Waschbecken ab. Der Verbandsschrank lag neben der Eingangstür zu meinem Zimmer. Ruhig öffnete ich eine Schublade, suchte nach Verband, Schere und Klebeband, um es zusammen zu halten und begann meinen Arm von dem Kittel zu befreien, indem ich den Ärmel kurzgedacht abriss. Es sah weniger schlimm aus, als ich vor wenigen Momenten noch befürchtet hatte. Tiefe Einstiche zwar, teilweise beim wieder herausziehen eingerissen. Ich blutete, hatte den Boden und das Bad wohl erst recht mit karmesinroten, dicken Tropfen versehen, aber es schien nichts wichtiges verletzt zu sein, also keine Arterie oder Knochen. Ich säuberte die Wunden notdürftig, dann fing ich vorsichtig an, den Verband um meinen Arm zu wickeln. Es tat weh, brannte und pochte heiß, ich musste mir hart auf die Lippen beißen, um nicht zu schreien, aber ich konnte nicht verhindern, dass die Tränen mir über die Wangen rollten. Ich schaffte es gerade noch, den überschüssigen Verband oben abzuschneiden, ihn gut zu verkleben, sodass er sich nicht gleich löste und alles wieder wegzupacken, ehe ich müde und bis ins Mark erschöpft zum Bett zurückrollte und mich hineinzerrte. Sobald ich lag, fiel ich beinahe sofort in einen ohnmachtsnahen Schlaf.

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