Kapitel 53 - Suche

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Wir saßen alle gemeinsam im Auto. Ich, Stefan, Julie und Judith. Wir alle hielten Ausschau nach Anne, die so wild und kopflos rausgerannt war in die Kälte eines noch jungen Tages. Es hatte mich entsetzt sie so zu sehen, wie ein Tier, das in die Enge getrieben wurde und nur den Weg nach vorne sah. Sie hatte unter Tränen geschrien, als müsste sie sich verteidigen, als wäre wir die Feinde, die ihr böses wollten. Es versetzte mir einen Stich in der Brust, dass sie das vielleicht wirklich dachte. Das jetzt jeden als Feind betrachtet hätte, der ihr zu nahe kam. Das schlimmste war aber, dass ich wusste wie sie sich fühlte. Sie wollte kein Mitleid für ihre Situation, sie wollte ehrliches Verständnis, echte Hilfe und keine leeren Worte. Ich kannte das von mir, auch ich wollte kein Mitleid dafür, dass ich jetzt im Rollstuhl saß und kaum noch für etwas zu gebrauchen war. Es hätte mich wahrscheinlich genauso wütend gemacht wenn ich an Annes Stelle wäre. Judith hatte da natürlich genau das Falsche gesagt, als Julie sich überraschend geöffnet hatte. Nun saß Ju schuldbewusst auf dem Rücksitz und sah nach draußen, in Gedanken versunken.

Ich sah meinerseits raus und suchte die Gegend mit Blicken ab, doch Anne konnte ich zwischen all den Menschen nicht entdecken. Es machte mir Sorgen, dass wir sie nun schon seit einer Stunde nicht fanden. Es war kalt draußen und sie hatte nicht einmal Schuhe an. Zudem war sie aufgeregt und kannte die Gegend nicht. „Vielleicht hätten wir jemanden zuhause lassen sollen, falls sie von allein wieder zurückkommt?", meinte Stefan, als hätte er meine Gedanken gelesen. Er hatte die Stirn gerunzelt und fuhr extra langsam, sodass hupend ein weiteres Auto überholte. „Ich und Julie können da auf sie warten.", bot Ju sofort an. Oh ja, sie hatte ein schlechtes Gewissen. Ich sah zu Stefan, der nachdenklich vor sich hinstarrte. Er schien zu überlegen, was jetzt die beste Option war. Seine Miene war besorgt und irgendwie müde, was natürlich auch von der schlaflosen Nacht kommen konnte, die er hinter sich hatte. „Das hört sich nicht schlecht an. Besser, als wenn Anne vor der geschlossenen Tür steht und friert.", sprach ich Stefan zu und brach seine nachdenkliche Stimmung. Er brummte zustimmend, warf einen Blick in den Rückspiegel und machte sich daran den Wagen zu wenden.

*
Wenig später, wir hatten Julie und Ju zuhause abgesetzt, nachdem wir sichergegangen waren, dass Anne nicht allein zurückgekommen war, fuhren wir weiter. Ich wurde mit jeder Minute unruhiger, als wäre das Wettlauf und wir fielen immer weiter zurück. Jeder meiner Muskeln war angespannt, während ich stur Ausschau hielt, so gründlich alles mit den Augen absuchend wie ich nur konnte. Doch außer einigen Nachbarn konnte ich niemanden sehen. „Okay, fahr ran und lass uns fragen ob sie Anne gesehen haben. Vielleicht fahren wir vollkommen falsch und sie ist in die entgegen gesetzte Richtung gelaufen.", schlug ich ungeduldig vor, woraufhin Stefan überraschend schnell reagierte. Kaum hatte ich das gesagt fuhr er an den Straßenrand, wo ein Nachbar gerade seinen Weg von Schnee freischaufelte. Ich kurbelte die Fensterscheibe runter. „Entschuldigen Sie! Haben Sie hier vielleicht eine junge Frau entlang laufen sehen? Braune Haare, keine Jacke?", fragte ich laut, als die Person aufblickte. Er schürzte die Lippen, als überlege er darüber, dann schüttelte er den Kopf. „So jemand wäre mir aufgefallen, denke ich. Ich habe niemanden gesehen. Wen suchen Sie denn?", fragte er zurück mit vor Kälte roter Nase. Derren flüchte innerlich. „Danke trotzdem für Ihre Zeit!" Danke für nichts... Stefan fuhr wieder an, weiter die Straße runter bis wir einen weiteren Passanten entdeckten. Auch dieser hatte Anne nicht gesehen und allmählich kochte die Sorge in mir über. Ich biss mir auf die Lippe, konnte meinen Puls aber nicht mehr weiter beruhigen. Was, wenn etwas passiert war? Sie sich verletzt hatte oder von jemandem aufgegabelt worden war, der sich ein heimatloses, junges Frauchen nicht entgehen lassen würde? Verschwanden nicht gerade Leute, die ziel- und haltlos waren? Die so aussahen, als würde sie keiner vermissen? Verdammt noch mal, wenn Anne irgendwas passiert war, würde ich kein Halten mehr kennen. Ich würde jeden, der versuchte ihr etwas anzutun so gründlich zusammenschlagen, dass er nicht mehr wusste wie der Name seiner Mutter lautet. Vielleicht würde ich ihn sogar umbringen, wenn der Augenblick es erforderte. Ganz oben auf meiner inneren Liste mit Personen, die ich verachtete war dieser Henry. Der Mann, vor dem Anne floh, der ihr und ihrer Schwester schlimmes angetan hatte und der sich, wenn er klug war, ab jetzt von Anne fern hielt.

Wir befragten weitere Nachbarn, ob sie etwas gehört oder gesehen hatten, dass in irgendeiner Weise auf Anne zutraf, aber mehr als Kopfschütteln und entschuldigende Blicke bekamen wir nicht. Ich versuchte mich in positiven Gedanken zu üben, doch umso länger die Suche ging, desto besorgter und verzweifelter wurde ich. Auch Stefan schien bald düsterer als noch am Anfang, wo er unpassender Weise gespaßt hatte, dass sie zu Fuß ja eh nicht weit kommen würde. Sie war von Southend bis nach Newton gegangen, sie konnte demnach überall sein, wenn Anne es wirklich darauf angelegt hatte wegzulaufen. Wenn wir sie nicht bald finden sollten war das meine größte Hoffnung. Das es ihr gut ging und sie einfach schon über alle Berge war. Auch wenn es ihr nicht ähnlich sah, dann Julie einfach bei uns zu lassen. Jetzt, da die Arme sich noch mehr Vorwürfe machte als ohnehin schon würde eine vergebliche Suche ihr jeden Halt unter den Füßen wegziehen.

Stefan fuhr zu einer Frau, die mit einer Freundin einen Kinderwagen vor sich herschob. Sie erschrak sehr und wollte schon eilig weiter gehen, als Stefan aus dem Auto sprang. „Warten Sie, ich habe nur eine Frage. Haben Sie hier ein Mädchen mit braunem Haar, ohne Jacke und Schuhe rumlaufen sehen?", fragte Stefan schnell, ehe die Frau weiter flüchten konnte. Sie blieb kurz stehen, betrachtete Stefan von oben bis unten, schien dann zu entscheiden, dass er nicht wie ein typischer Verbrecher aussah und schüttelte den Kopf. „Nein, tut mir leid." Ich konnte sehen wie Stefan seufzte. Er nickte als Zeichen der Bestätigung, dann bedankte er sich und stieg wieder ein. Doch er blieb an der offenen Tür sitzen, ohne wieder loszufahren. Ich wandte den Blick angespannt zu ihm, in Erwartung, dass er irgendwas sagte. Doch er schwieg zu lange, als müsste er verschnaufen. „Wir müssen weiter!", drängte ich ungeduldig, doch er sah nur untätig auf das Lenkrad. Ich verdüsterte meinen Blick. „Wir haben jetzt über fünfzehn Leute befragt und keiner hat sie gesehen. Vielleicht ist sie längst wieder da.", warf Stefan nachdenklich ein. Ich konnte ein Grollen nicht unterdrücken. „Oder sie sitzt jetzt einsam irgendwo im nirgendwo und friert sich zu Tode! Selbst wenn wir hundert Leute gefragt hätten, ich werde ganz sicher nicht so schnell aufhören zu suchen. Fahr jetzt!" Stefan schaffte ein kurzes, müdes Lächeln. „Du hast sie wirklich gern.", murmelte er vor sich hin und zog die Tür zu. Ich schnaubte gereizt. „Natürlich, hattest du daran jemals Zweifel?", grummelte ich. Stefan schüttelte den Kopf und fuhr wieder an. „Nein, keine Sekunde.", sagte er geheimnisvoll besonnen und nahm seine Suche wieder auf. Ich wusste nicht, was ich von seinen Worten halten sollte. Fast war ich mir sicher, er hatte viel mehr sagen wollen, es sich im letzten Moment aber anders überlegt. Aber dafür war jetzt nicht der richtige Zeitpunkt.

Wir fuhren also noch einmal in eine andere Richtung, um dort zu suchen. Wieder fragten wir Leute und wieder hatte niemand Anne gesehen. Es war, als wäre sie vom Erdboden verschluckt. Als hätte ich mir ihre Anwesenheit nur eingebildet und suchte nun nach einem Hirngespinst. Wäre nicht Stefan dabei gewesen. Und Judith und Julie hatten es auch erleben.

Wieder hielt Stefan am Straßenrand, neben einem kleinen fahrbaren Kiosk und wiederholte die einzige Frage, die sie momentan hatten. Gefasst, wieder ein Kopfschütteln und ein Nein zu bekommen konzentrierte ich mich auf den Zeitungsstapel, der auf dem umgebauten Fahrradständer lag. Präsident Kennedys Gesicht prangt groß auf dem Titelblatt. Eine kleinere Anzeige an der Seite war jedoch um einiges interessanter. ‚Rassistisch motiviert? Mann erschlägt Ehefrau und flieht.' Darunter war das verschwommene Bild eines Mannes mit Halbglatze und hängenden Wangen. Ich kannte ihn nicht, und gerade als ich den Namen des geflohenen Irren entziffern wollte, ließ mich ein Freudenschrei zusammenfahren. Es war Stefan der aufgeregt wie ein Kind nickte und den Mann mit einem Schwall Fragen überhäufte. „Wann war das? Wo haben Sie sie gesehen? In welche Richtung ist sie gelaufen?" Neue Hoffnung glomm in meiner Brust auf und ich richtete mich in dem Autositz auf. „Das muss vor einer halben Stunde gewesen sein. Sie ist die Straße raufgegangen, hat am ganzen Leib gezittert. Ich wollte sie erst aufhalten und die Polizei verständigen, aber man weiß ja nie wer da vor einem steht. Sie hätte sonst wer sein können. Eine verrückte Entflohene vielleicht, oder-" Stefan unterbrach ihn barsch, indem er sich einfach abwandte und zum Auto lief. Der Mann zog die Augenbrauen hoch, als Stefan aufs Gaspedal trat und wie ein Berserker anfuhr. Selbst ich war überrascht, aber auch froh, dass er keine Zeit unnötig verstreichen ließ. Bei der Kälte draußen konnten Minuten entscheiden...

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