Kapitel 63 - Weihnachtsmorgen

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Anne hätte ewig hier liegen können in der Wärme des Bettes, das ja nicht ihres war. In die Decke gekuschelt, in der warmen Mulde, in der Derren zuvor gelegen hatte. Ihr schwirrte immer noch der Kopf von seinen Küssen und seine Berührungen glühten noch immer auf ihrer Haut. Verbrannten sie mit einer Sehnsucht nach mehr, wie sie es nie zuvor gespürt hatte. Ihr war generell ziemlich warm, obwohl es Winter war fühlte sie sich gerade als könnte sie einfach raus gehen, so wie sie war und der Schnee würde zu ihren Füßen schmelzen, wie Klamotten vor einem heißen Ofen. Und die Wärme war nicht nur äußerlich, auch ihr inneres war warm und glücklich, ausgefüllt von wohligen Gefühlen, welches sie lange nicht mehr gefühlt hatte. Es waren Liebe und Geborgenheit die sie einhüllten wie ein warmer Mantel. Anne hätte sich in diesem Moment nicht besser fühlen können. Auch wenn alles so ungewohnt war und neu, fühlte sie sich wohler, als in den vielen Momenten die sie kannte. Anne hatte das Gefühl hier her zu gehören, mit Haut und Haaren. Erstaunt stellte sie fest, dass das hier in so kurzer Zeit schon mehr ein Zuhause für sie geworden war, als ihr wahres Heim.

Nachdem sie so eine Zeit lang über all das nachgedacht hatte, beschloss sie doch das Bett zu verlassen. Sie wollte nach alledem was Derren Familie ihr schon gutes getan hatte nicht unhöflich sein, obwohl er ihr gesagt hatte sie könne noch liegen bleiben. Aufgewärmt und träge stand sie auf, streckte sich und sah, sofern man das konnte, aus den Fenstern. Weißer Schnee glitzerte hinter den nicht zugenagelten Schlitzen. Ein neuer Tag der mit klirrend kalter Freude vor sich hin glitzerte. Anne ging zu den Fenstern hin und betrachtete die Bretter. Einige waren mit Dutzenden schrägen Nägeln an die Wand gepinnt, eilig und ohne viel Mühe einfach befestigt, während andere ohne jegliche Ordnung quer darüber mit nur einem Nagel befestigt waren. Intuitiv fasste Anne danach und legte die Finger um das Holz. Ohne viel Mühe konnte Anne eines davon aus seiner Befestigung heben. Licht fiel ins Zimmer, jedenfalls mehr als zuvor. Ein Handgroßer Schlitz erhellte Annes Gesicht. Das Fenster, vor dem noch ein kleiner Weg aus dem Garten zur Straße entlang lief zeigte den gleichen Kräutergarten von Derren Mutter den sie jetzt während des Winters mit einer Plane abgedeckt hatte. Gerade, als Anne sich an dem nächsten Brett zu schaffen machen wollte, entdeckte sie aus den Augenwinkeln einen Schatten. Sie sah genauer hin und erkannte in dem Schatten eine Person, die gekrümmt vor dem Zaun hockte wie ein geschlagener Hund. Er hockte mit dem Rücken zu ihr, sie Knie an die Brust gezogen, die Haut an Händen und Nacken rot vor Kälte. Entsetzt riss Anne das nächste locker sitzende Brett von der Wand, um besser sehen zu können. Mehr Licht viel herein, mehr von der zusammengekauerten Person deckte sich auf. Wer immer da war, die Person war gerade am erfrieren! Vielleicht ein Obdachloser, der Schutz suchen wollte.

Eilig löste Anne noch zwei weitere Bretter und schaffte es das Fenster einen Spalt breit zu öffnen. „Hey! Sie! Geht es Ihnen gut?", rief Anne besorgt, auf das der Mann sie hörte. Doch er zeigte keine sichtliche Reaktion. Er blieb unbewegt am Zaun kauern. Eine böse Befürchtung machte sich in Anne breit. „Können Sie mich hören?", rief sie noch einmal fragend, doch als auch dieses Mal keine Reaktion kam, beschloss sie rauszugehen. Sie würde keine Person draußen einfach erfrieren lassen. Ohne zu Zögern zog sie sich Derrens Jacke über und verließ das Zimmer. Klappern und Gesprächsfetzen klangen zu ihr aus der Küche. Julie war da, dass war gut, auch wenn Anne ihr wahrscheinlich erklären musste, wo sie denn die halbe Nacht gesteckt hatte.

Eilig öffnete Anne die Tür und verließ das Haus, ohne noch einmal zurückzusehen. Mit großen Schritten lief sie um das Haus zu der Stelle, an der der Mann kauerte. Doch als sie dort ankam und ihre Füße vor Kälte bereits schmerzten, war der Mann fort. Zurück blieben eine Kuhle geschmolzenen Schnees am Zaun und Fußspuren. Mit verschränktem Armen, um die restliche, verbleibende Wärme bei sich zu behalten sah Anne sich um. Konnte das sein? Konnte diese Person einfach so davon laufen? Vielleicht war es wirklich ein Landstreicher, der jetzt Probleme fürchtete. Anne drehte sich irritiert einmal um sich selbst und beschloss dann wieder reinzugehen, als sie aus heiterem Himmel etwas starkes, schweres in den Rücken rammte, sodass sie mit ersticktem Japsen in den Schnee fiel. Sie hatte gerade genug Zeit sich herumzurollen, als eine dunkle Person sich unsanft auf sie setzte und mit seinem Gewicht runterdrückte. Der durchdringende Gestank von altem Urin, Kotze, ungewaschener und Alkohol drang ihr als beißende Wand entgegen. Eine Hand fuhr an ihren Hals und drückte so fest, dass sie kaum noch nach Luft schnappen konnte. Anne Hände griffen nach dem Handgelenk des Angreifers und wollten es wegdrücken, doch er war stärker als er aussah. Nun wischte er sich einige fettige Strähnen aus dem Gesicht und Anne vergaß vor Schreck gar sich zu wehren. Alles in ihrem Inneren zog sich vor Angst zusammen, ihr Gesicht wurde taub und heiß zugleich und eine kalte Gänsehaut raste über ihren Körper, die wenig mit dem eiskalten Schnee unter ihr zutun hatte. „Henry...", keuchte sie kaum hörbar und in ihrer Stimme spiegelte sich all das Grauen wieder, welches sie sich bei ihrem Wiedersehen ausgemalt hatte.

Er war dreckig - noch dreckiger als sonst - seine Hände waren in bloße Stoffwickel eingehüllt, aber die Fingerspitzen, die herausschauten waren am kleinen Finger und Ringfinger schwarz. Abgestorben, vor Kälte... Annes Kopf konnte es nicht glauben, wollte nicht wahrhaben, dass das hier wirklich passierte, während ihr eigenes angestrengtes, pfeifendes Atmen in ihren Ohren hallte, da Henry ihren Hals noch immer zudrückte. Schreckensvoll sah sie zu ihm auf, dessen Pupillen stecknadelkopf klein in weit aufgerissenen Augen waren. „Anne... mein liebes Kind. Dachtest du, du könntest dich vor mir verstecken.", er schüttelte den Kopf wie ein Vater der über die Leichtsinnigkeit seiner Kinder lachte. Beinahe liebenswürdig, wäre der starrte Blick nicht und seine Hand, die sich kein Stück lockerte. „Aber wie immer warst du naiv und dumm zu glauben, ich würde dich nicht finden. Denn ich finde dich immer. Überall... Es gibt kein Versteck das gut genug ist, meine liebe Anne. Warum verstehst du das denn nicht?" Seine Stimme war zunächst beängstigend sanft, ehe sie einen schrillen, fast hysterischen Klang annahm. Anne wand sich unter Henrys Gewicht, versuchte verzweifelt Finger zwischen Henrys Hand und ihren Hals zu zwängen um wieder atmen zu können. „Nein... du verstehst nicht. Du willst es einfach nicht verstehen... Ich opfer mich für deine Familie auf, gebe mein Geld und meine Liebe für euch her und du rennst davon, wie ein störrischer Vorstadtteenager. Du dankst es mir indem du aufmüpfig bist, mich beschimpfst und Julie gegen mich aufbringst. Aber ich habe deiner Mutter versprochen auf dich aufzupassen. Ich habe ihr versprochen, dich zu einer braven jungen Frau zu erziehen und das werde ich tun.", rief er nun hysterisch mit sich überschlagener Stimme. Er begann zu lachen, laut und kehlig, wie das Monster das er war. Anne wurde es schlecht vor Angst, überwältigende Panik ergriff sie.

Heiser aufschreiend ballte sie ihre Kräfte zusammen und wandte sich mit all ihrer Macht, sodass Henry tatsächlich einen Moment das Gleichgewicht verlor. Er löste die Hand von ihrem Hals und Anne schnappte begierig nach Luft. Bevor er aber ganz von ihr Abließ holte er aus und rammte seine Faust seitlich gegen ihre Wange. Der Schmerz explodierte in bunten Farben in ihrem Gesicht und wieder schrie sie erstickt auf. „Schnauze!", grunzte Henry laut und derbe, schlug gleich noch einmal zu. Ihr Kopf flog zur Seite. Es tat so weh, Anne konnte nicht mehr hören, nicht mehr sehen, alles war erfüllt von dem Schmerz, der sie ausfüllte. „Bitte... hör auf...", wimmerte sie durch den Schmerz, hielt sich die Wange und wollte sich wie ein geschlagener Hund zusammenkauern. „Ich sagte; Schnauze! Kannst du nicht hören, du dummes Kind?", knurrte Henry aggressiv und holte wieder aus. Anne wimmerte auf, zuckte vor seiner Hand zurück, die er wieder hob. Und mit dem nächsten Hieb beförderte Henry sie in eine erneute Explosion aus Schmerz in tiefe Dunkelheit.

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