Kapitel 44 - Bedingungslos

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Anne blieb vor der Haustür ihrer Wohnung stehen und zögerte. Henry würde noch wach und alles andere als froh sein sie zu sehen. Sie hatte sich unerlaubt davongeschlichen und kam nun nass und frierend wie ein begossener Pudel an. Ihre Kleidung war komplett durchnässt, sie hätte für den Rückweg länger gebraucht, da sie den Bus verpasst hatte. Anne war also den ganzen Weg zu Fuß gegangen und war nun völlig erschöpft. Und sie wusste nicht, ob sie Henry jetzt auch noch vertragen würde.

Sie seufzte erschöpft und wandte sich dann doch wieder um. Besser nicht mehr heute Abend. Wenn sie Henry morgen früh ertrug war das genug. Oder... vielleicht konnte sie sich zur Arbeit schleichen ohne ihm überhaupt über den Weg zu laufen. Aber ihre Arbeitskleidung war in ihrem Schrank. Anne presste sie Lippen aufeinander und entschied dieses Problem auf morgen zu verschieben. Leise stieg sie im Treppenhaus rauf bis zu einer Dachwohnung. Auf dem heimeligen Schild an der Tür stand „Frida Goldmann". Eine alte Lady, die mit ihrem ebenso altem Hund dort oben allein wohnte seit ihr Mann gestorben ist. Anne brachte ihr manchmal was zu Essen mit, wenn sie eingekauft hatte, damit Frida nicht jedes Mal die Treppen steigen musste. Im Gegenzug war das Annes Notversteck, wenn Henry es mal wirklich übertrieb. Julie war auch gerne hier oben. Frida war wie die Oma, die sie nie kennengelernt hatten.

Hoffend, dass die alte Dame noch wach war, klopfte Anne ein paar mal an der Tür. Der Hund schlug nicht sofort an, aber auch der hatte seine beste Zeit schon hinter sich. Erst, als Anne mehrmals geklopft hatte startete ein träges Bellen hinter der Tür, das sein Frauchen aufweckte. Nach einigen weiteren Minuten öffnete sich die Tür und eine sehr verschlafen aussehende Dame im Abendkleid und mit einer grünen Gesichtsmaske stand vor ihr. Frida blinzelte mehrere Male. „Anne, bist du das Schätzchen?", fragte sie und kniff die Augen zusammen, um besser zu sehen. Ohne ihre Brille war sie blind wie ein Maulwurf, aber in ihrer Eile zur Tür zu kommen, hatte sie sie wohl vergessen. Anne bejahte und wurde von Frida mit einem breiten, faltigen Lächeln eingelassen. „Wieder Henry?", fragte sie voll Mitleid und schlurfte voran in die Küche. Anne legte die nasse Jacke und Schuhe ab, die sie sorgfältig über die schmale Heizung zum trocknen legte. Dabei atmete sie den vertrauten Geruch nach Lavendel und altem Menschen ein, der an jedem Möbelstück und in jedem Teppich zu stecken schien. „Nein, diesmal nicht. Aber ich fürchte er wird böse werden wenn ich jetzt nach Hause komme.", antwortete Anne und folgte Frida in eine beengte Küche mit einem verhangenen Dachfenster in dem sich allerlei Kräuter drückten. In der Küche setzte Frida ihre Brille auf, die sie aus irgendeinem Grund auf der Theke gelassen hatte, und blinzelte Anne mit riesigen Augen an. Anne lächelte ihr kurz zu und sah sich dann etwas genauer um. Frida goss Wasser in einen Kessel, um es warm zu machen. Einen Wasserkocher besaß sie nicht. Alles unnötiger Schnickschnack von heute, hatte sie Anne mal erklärt, als sie  nachgefragt hatte. „Schrecklicher Mann", murmelte Frida leise vor sich hin, während sie sich die Maske umständlich aus dem Gesicht wusch. Anne nickte wortlos und sah zu einer Minorah, die zentral und unangezündet auf dem Tisch stand. Ein stummes Zeichen, das Chanukka längst begonnen hatte. Vor einer Ewigkeit hatte es sowas auch bei Anne zuhause gegeben, aber seit Henry da war, war alles, was offensichtlich jüdisch war in den Keller verband worden. Auch deshalb beruhigte Anne dieser Ort unheimlich. Sie fühlte sich hier mehr zuhause, als in ihrem eigentlichen Bett. Es haftete eine Normalität an diesen Wänden, die sie sich sehnlichst wünschte. Es gab ihr außerdem Zeit über den Tag nachzudenken. Was geschehen war, was gesagt und getan wurde.

Frida unterbrach sie noch ehe Anne richtig anfangen konnte, über den Tag nachzudenken. „Warst du heute in der Synagoge?", fragte Frida wie nebenbei und machte zwei Tassen mit Tee bereit. Anne runzelte die Stirn und schüttelte den Kopf. „War ich schon lange nicht mehr. Meistens arbeite ich am Freitag und da lässt sich das schwer machen.", erklärte Anne lahm und erwartete, dass Frida sie dafür ausschimpfen würde, aber sie blieb ruhig. Sie schnalzte mit der Zunge und warf Anne einen bedeutungsvollen Blick zu, mehr aber nicht. Anne wusste auch so, wie gering Frida da schätzte. „Arbeit... Ich würde schwören, dass Henry euch nicht gehen lässt.", murmelte sie vor sich und schob noch einige üble Beschimpfungen hinterher, die so leise waren, dass Anne sie nicht verstand. Auch besser so, sie wusste längst, was Henry für ein widerlicher Mann war. Sie musste nicht noch mehr hören.

„Am besten du ziehst die nassen Klamotten aus und legst dich dann schlafen. Ich bring dir den Tee ins Wohnzimmer.", meinte Frida gutmütig und war von einen Moment auf den anderen wieder liebevolle Großmutter, die niemanden etwas zu Leide tun konnte. „Danke" Anne war gerührt von so viel Fürsorge, und wenn sie ehrlich mit sich war, dann konnte sie ein bisschen Ruhe jetzt gut gebrauchen. Sie machte also das, was Frida ihr gesagt hatte; Schälte sich aus den nassen Klamotten und tappte in Unterwäsche zu dem alten, durchgesessenen Sofa. Eine richtige Bettdecke gab es nicht, nur mehrere Tagesdecken, die ihr genügen mussten. Sich die Kissen zusammen sammelnd und zu einem kleinen Haufen türmend, kam irgendwann Frida herein und stellte eine dampfende Tasse auf den kleinen Couchtisch, neben Anne. „Schlaf gut, meine Kleine! Für morgen musst du ausgeruht sein.", meinte sie, nachdem sie den Tee abgestellt hatte und Anne sich auf das Sofa hatte fallen lassen. „Schlaf du auch gut!", erwiderte Anne und beobachtete, wie Frida dann das Wohnzimmer verließ und in ihr Schlagzimmer ging. Als sie die Tür schloss, war es augenblicklich stimm in der Wohnung. Anne seufzte erleichtert und rollte sich in die Decken.

Jetzt, wo endlich Ruhe einkehrt, begannen ihre Gedanken zu wandert und über den Tag nachzudenken. Und jetzt schnell waren sie wieder bei dem Essen... und Stefan. Sie verstand Stefan einfach nicht. Natürlich war er ein Schürzenjäger und durchaus sehr bemüht, wenn es darum geht, eine Frau für sich zu gewinnen, aber so hatte Anne ihn nicht eingeschätzt. Er war grob und lieblos gewesen, als würde es ihm dabei gar nicht um Anne gehen, jedenfalls nicht vordergründig. Wenn sie sich das noch einmal durch den Kopf gehen ließ, war er erst so besitzergreifend und unangenehm geworden als er Derren im Raum bemerkt hatte. Anne nahm einen Schluck Tee und verbrannte sich die Zunge. Mit verzogenem Gesicht stellte sie die Tasse zurück. Und wenn es Stefan nun wirklich nicht darum gegangen war, Anne von sich zu überzeugen? Aber was hatte er denn dann vorgehabt? Seiner Lächeln nach zu folgen, war er zufrieden mit Derrens Reaktion gewesen. Derren, der kurz davor war ihn unangespitzt in den Boden zu rammen und sich trotzdem so zurückgehalten hatte. Aber warum wollte Stefan das Derren wütend wurde? Oder ging es ihm um Eifersucht? Anne erinnerte sich daran, was Stefan vor einigen Tagen zu ihr gesagt hatte. Ich wünschte, ich wäre an Derrens Stelle. Dann wäre ich es, der dich haben kann. War Stefan tatsächlich so eifersüchtig auf Derren? Aber auf was? Bisher war nichts zwischen Anne und Derren passiert, worauf Stefan eifersüchtig sein konnte. Anne verstand das nicht, es machte in ihren Augen keinen Sinn und so schüttelte sie den Gedanken ab. Was auch immer sich Stefan damit erreichen wollte.

Lieber erinnerte sie sich an die Wärme von Derrens Umarmung, die da so tröstlich und warm auf sie abgestrahlte. Noch immer konnte sie sich an das Gefühl erinnern und verspürte gleichzeitig den Wunsch, wieder in Derrens Armen zu lieben, das Gesicht an seine Brust zu drücken und einfach nur seinen Geruch einzuatmen. Anne konnte nicht verhindern das sich ein kleines Lächeln auf ihre Lippen stahl. Es kam ganz automatisch, ohne das sie es bewusst geformt hätte. In ihrer Magengegend entwickelte sich eine positive Aufregung und noch ehe sie den Gedanken unterdrücken konnte, stieg er in Anne auf und erblühte. Sie wollte Derren küssen, ihren wirklichen ersten Kuss erleben, den Stefan ihr uncharmant vorweggenommen hatte. Sie wollte Derrens starke Arme fühlen, wie er sie dabei in einer Umarmung hielt und sie sanft an sich drückte. Allein bei der Vorstellung musste Anne das Gesicht in die Kissen drehen und ließ ein mädchenhaftes Kichern verstummen. Und wenn sie es zuvor eher als vorübergehende Schwärmerei betrachtet hatte, wie jede ihrer Verliebtheiten bisher nur Schwärmereien gewesen waren, so war sie sich jetzt ob der Heftigkeit ihrer Gefühle klar. Sie war in Derren verliebt. Hals über Kopf und bedingungslos. Zu romanisch und zerbrechlich für so eine harte Welt, für so einen Mann, der bereits so viel Tod und Leid gesehen hatte.

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