Kapitel 43 - Veränderung

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Das Essen verlief schweigsam und war am Anfang nur unterbrochen durch Annes höfliches Aufmerken, wie lecker das der Hauptgang sei. Mutter hatte es mit einem erfreuten Lächeln quittiert, aber der Streit zwischen mir und Stefan lag noch immer bleiern in der Luft und machte echte Konversation schwer. Natürlich hatten unsere Eltern es mitbekommen. Es war unmöglich, das sie es nicht hatten. Sie konnten die Spannung im Raum nur bemerken.

Ich saß zwischen Anne und Stefan und bildete bewusst eine Grenze zwischen den beiden, die Stefan nur mit einem leichten Schmunzeln hingenommen hatte. Anne dagegen hatte erleichtert gewirkt, nicht neben Stefan sitzen zu müssen. Und um ehrlich zu sein war ich froh, dass sie nicht gegangen war nachdem, was Stefan abgezogen hatte. Ich hätte das an ihrer Stelle vielleicht getan, um mich jetzt der Blöße dieses Momentes nicht zu geben. Den verwunderten und durchaus verwirrten Blicken meiner Eltern ausgesetzt, die sich in höfliches Schweigen hüllten um das Essen nicht noch unangenehmer zu machen oder in ein Fettnäpfchen zu treten, der die Stimmung wieder aufwühlen würde. Doch Anne schien nicht allzu viel von dieser Geste zu bemerkten, oder sie spielte ihre Rolle einfach gut. Saß da wie ein braves Mädchen. Lächeln ein paar Mal und zeigte so hervorragende Manieren bei Tisch, dass Mutter ihr, wenn sie jünger gewesen wäre, eine Schleife gegeben hätte. Und ich daneben wie ein Trampel aussah. Aber ich gab mir ja auch keine Mühe, nicht so zu wirken.

Nachdem ich viel zu schnell aufgegessen hatte und nun unangenehm satt war, lehnte ich mich zurück. Ich hatte das Essen nicht genossen. Es war köstlich, keine Frage. Mutter hatte sich viel Mühe gegeben, aber jeder Bissen erschien mir wie eine Last. Jeder Geschmack war mir zu viel. Die kleinen salzig-herzhaften Explosionen auf meiner Zunge erregten leichten Ekel in mir. Und sie nun schwer in meinem Magen zu fühlen war nicht weniger unangenehm. Dieser ganze Tag war insgesamt so stressig gewesen, dass ich mich fühlte, als würde ich alles nachher wieder auskotzen. Zu viel für mein eigentlich so abgekapseltes Leben, welches seine Hauptakteure in einer Zeit fand, welche längst vorbei war. Zu viel für einen Verrückten wie mich.

Als es für Anne schließlich an der Zeit war zu gehen, folgte ich ihr zur Tür. Zuvor bedankte sie sich herzlich bei meinen Eltern für das leckere Essen und die Mühe, die sie sich gegeben hatten. Die beiden nickten und sprachen ein paar Worte der Dankbarkeit aus, aber wenn man etwas genauer hinsah, konnte man ihre Enttäuschung sehen. Der Abend war anders verlaufen, als sie es sich gedacht hatten. Die Stimmung war grauenhaft gewesen und das war zum Teil auch meine Schuld.

Draußen war es schon dunkel, nur einige wenige Straßenlaternen erhellten die Straße. Der Schnee erstickte jedes Geräusch und machte die Welt stumm. Im Flur reichte ich Anne eine viel zu dünne Jack für diese Jahreszeit, die zusätzlich noch mit bunten Flicken versehen war, und Schuhe, die immerhin so wirkten, als würden sie ein bisschen Schutz vor Schnee und Schlamm bieten. Es widerstrebte mir innerlich, sie so raus zu lassen, aber ich hatte auch keine gute Alternative für sie. Anne zog alles mit langsamen Bewegungen an, so, als ob sie jeden Moment in der Wärme genoss und warf dann einen flüchtigen Blick nach draußen. „Hast du es weit?", fragte ich weniger aus Höflichkeit, mehr aus Besorgnis bei einem Blick auf ihre wärmende Ausstattung. Sie sah mich stirnrunzelnd an. „Ein paar Busstationen.", antwortete sie lapidar, und ich war mir ziemlich sicher das sie untertrieb. Aber ich hielt es für besser nichts darauf zu sagen. Sie schaute mit einem leicht nervösen Blick auf die Standuhr. Es war kurz vor sieben, keine großartig ungewöhnliche Zeit, um nach Hause zu gehen. Vielleicht deutete ich in ihren Blick zu viel hinein, aber Anne schien der Blick auf die Uhr in höchste Panik zu versetzen. Ich runzelte leicht die Stirn, als sie den Blick wieder mir zuwandte, als würde ich sie stumm fragen, was los sei. Offensichtlich verstand sie aber nicht. Sie lächelte verlegen und zuckte mit den Schultern. „Tut mir leid, was heute passiert ist. Das Essen war gut, es hat mich sehr gefreut hier zu sein. Da ist es nicht recht, dass ich mit meiner Überdramatisierung alles kaputt gemacht habe. Stefan hat das sicher nicht böse gemeint, er hat da nur was missverstanden, da bin ich mir sicher. Also...", ruderte sie nicht recht wissend, wie sie das ausdrücken könnte. Mich störte es, dass sie Stefans unfassbare Dreistigkeit so verharmloste. Er hatte sie praktisch vor meinen Augen angesprungen wie ein Wolf ein wehrloses Lamm, sie gegen ihren Willen geküsst und sie an sich gedrückt, als könnte er so erzwingen, dass sie es mochte. Da war nichts zu verharmlosen. Und wenn sich einer entschuldigen sollte, dann war es Stefan. Allein der Gedanke daran erweckte den Quell der Wut in meiner Brust zu neuem Leben. „Naja, auf jeden Fall will ich nicht, dass das einen Keil zwischen euch geschlagen hat. So schlimm war es ja eigentlich auch nicht.", fügte Anne holperig hinzu und knetete ihre Hände angespannt. „Doch es war schlimm!", knurrte ich erbost, als ich mich nicht mehr zurückhalten konnte. „Er hat dich vor meinen Augen, beinahe noch vor den Augen unserer Eltern entwürdigt. Du hast jedes Recht wütend auf ihn zu sein, ihn zu verachten für das, was er sich erlaubt hat. So sollte man eine Frau nicht behandeln. Niemals!" Meine Stimme war hart und kühl, ich könnte sehen, wie Anne unter ihr zusammen zuckte und mich schuldbewusst ansah. Ich schnaubte und versuchte mich wieder zu beruhigen. Ihr unehrliches Lächeln war erstorben und hatte jetzt einem traurigen Blick Platz gemacht. „Denk nicht mehr darüber nach. Manchmal hilft es, Sachen die einen traurig oder wütend machen einfach zu vergessen.", sagte sie in einem ungewöhnlichen düsteren, gedämpften Tonfall, als wüsste sie nur zu gut, wovon sie sprach. Ich sah Anne forschend an, doch ich konnte nicht hinter ihre Fassade blicken. Ich wusste nur, dass da etwas hinter dem höflichen Lächeln und den guten Manieren lag, was viel trauriger und dunkler war, als ich es jemals angenommen hatte. Das Anne, die sonst immer so zuvorkommend und fröhlich wirkte etwas mit sich herumtrug, was viel mehr war, als die normalen jugendlichen Probleme, die man in ihrem Alter hatte. Oder haben sollte. Ich war erschrocken davon. Von dieser Kostprobe, die mir schon so viel Leid offenbarte. Unmittelbar dachte ich an die blauen Flecken in ihrem Gesicht zurück. Ich schluckte hart.

Doch im nächsten Moment verwandelt sich Annes Gesicht schon wieder in das unschuldige, brave Mädchen von nebenan, ganz so, als hätte es diese Traurigkeit nie gegeben. Wieder ein Blick auf die Uhr. Es war jetzt sieben. „Gut, dann sollte ich jetzt los. Es hat mich trotz allem sehr gefreut hier zu sein. Danke für eure Gastfreundschaft, das weiß ich sehr zu schätzen.", meinte sie und bewegte sich zur Tür. Ich folgte ihr und öffnete sie ihr dann zuvorkommend. Anne schenkte mir ein kurzes, ehrliches Lächeln. „Vielleicht sollte ich dich lieber begleiten?", fragte ich vorschnell. Ich ignorierte völlig, dass ich seit Wochen nicht mehr allein draußen gewesen war und jetzt bot ich gleich an, Anne zu sonst wohin zu begleiten. Aber es war mir so natürlich, dass ich nicht anders konnte. „Nein danke, es wird schon gehen. Ich gehe den Weg ja auch immer, wenn ich von der Arbeit komme allein im Dunkeln nach Hause.", sagte Anne und zuckte mit den Schultern. Ich blieb zerknirscht zurück und sah, wie sie in den Schnee trat. Kalte Nachtluft wehte mir unbarmherzig ins Gesicht, doch ich merkte es nicht. Wollte es nicht merken. „Dann... pass auf dich auf.", murmelte ich gerade noch so laut, dass sie mich verstehen konnte. Sie wandte sich halb zu mir um und lächelte mich warm an. „Danke... Du auch.", erwiderte sie. Ich schaffte den Hauch eines Lächelns. „Immer" Das war die Antwort, die ich früher immer gegeben hatte, wenn meine Mutter mich zum Abschied ermahnt hatte, bloß heil zurück zu kommen und vorsichtig zu sein bei meinen Einsätzen in Vietnam. Wenn sie mich an sich gedrückt hat, wie zum letzten Mal und mich verabschiedete, wenn ich für ein oder zwei Wochen Heimaturlaub hatte. Immer...

Anne nickte, winkte mir noch einmal zu und trat dann durch den Vorgarten auf die kleine, ruhige Nebenstraße. Ich sah ihr nach bis sie an der nächsten Häuserecke verschwunden war und ignorierte, dass mein Körper irgendwann anfing vor Kälte zu zittern. Mich erfüllte eine Wärme, wie ich sie schon lange nicht mehr gespürt hatte. Keine unangenehme Wärme, wie die Hitze im vietnamesischen Dschungel. Es war eine Wärme die seit langer Zeit, endlich mal nicht von den Dämonen berührt werden konnte. Und diese Wärme hielt an, als ich die Tür schloss und leicht lächelnd den Kopf dagegen legte. Sie hielt an, als sich die Dämonen wieder über mich hermachen wollten, jetzt wo Ruhe einkehrte. Und sie hielt an, als ich die Augen schloss und Annes Lächeln sah.

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