Kapitel 55 - Zwischen Brüdern

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Stefan fuhr gemäßigt über die Straßen auf einem Weg, den er gut zu kennen schien. Es war der Weg zum Krankenhaus, noch vor wenigen Wochen, der Weg zu mir. Ich wollte nicht darüber nachdenken, weil mich dieser Gedanke mit ungeahnter Bitterkeit erfüllte. Um mich abzulenken sah ich einmal mehr in den Rückspiegel und sah Anne neben ihrer Schwester sitzen. Anders als Julie sah sie jedoch nicht raus, sondern betrachtete seit Anfang der Fahrt den Ring, den ich ihr gegeben hatte und der jetzt ihren linken Ringfinger schmückte. Sie wirkte nachdenklich und in sich gekehrt und mal wieder kamen mir Zweifel an der ganzen Sache. Sie schien nicht wirklich überzeugt und wenn ich ehrlich war, ich auch nicht. Stefans Schluss war zwar einleuchtend, aber musste es wirklich die einzige Möglichkeit sein? Ich vertraute ihm, er hatte sich bisher noch aus jeder misslichen Lage rauswinden können. Aber lag er diesmal richtig mit seiner Idee? Mir fiel keine bessere ein, jedenfalls jetzt noch nicht.

Anne sah den Verlobungsring meiner Mutter an, strich nachdenklich über das glänzende Silber, welches in verschlungene Linien zwei Hände andeuteten, die ein Herz hielten, welches eine kleine Krone trug. Das Herz zeigte vom Handgelenk weg, als Zeichen der Verlobung. Mutter würde einen Tobsuchtsanfall bekommen, wenn sie wüsste, dass er nicht mehr in ihrem Schmuckkästchen war. Es war ein Erbstück - natürlich - aus Vaters langer Familiengeschichte mit der er nicht müde wurde uns an Feiertagen zu nerven. Ein Claddagh-Ring, der Vertrauen, Liebe und Treue symbolisierte. Auf der Innenseite war Mo chridhe, mo ghràidh, mo shaol eingraviert. Mein Herz, meine Liebe, mein Leben. Vater bekam ihn als junger Mann von seiner Mutter, mit der Aufgabe, ihn irgendwann seiner Frau zu schenken, da sie keine eigenen Töchter hatte. Denn dieser Ring wurde traditionell von Mutter an Tochter vererbt. Die Geschichte dahinter war alt und wie viele Geschichten größtenteils nur ein Märchen, aber Vater wurde nicht müde sie uns zu erzählen. Der Legende nach soll es einst einen Segler namens Richard Joyce gegeben haben, der von Piraten entführt und an einen maurischen Goldschmied verkauft worden war. Er erlernte das Handwerk seines Meisters und schmiedete einen Ring, aus Sehnsucht zu seiner Verlobten. Das alles hatte ich Anne lieber nicht gesagt, ich befürchtete, sie hätte den Ring sonst nicht angenommen. Schon jetzt hatte sie sich kurz gesträubt etwas so wertvolles bei sich zu tragen, aber wenn diese ganze Sache echt wirken sollte, dann war das definitiv notwendig. Ich seufzte also in mich hinein und richtete den Blick wieder auf die Straße. Es hatte wieder angefangen zu schneien.
*
Zusammen mit Stefan wartete ich vor dem Behandlungszimmer, in dem Julie gerade ein Gespräch mit einem Arzt hatte. Sie war geröntgt worden und anschließend nach langem Warten von einem Arzt zum Gespräch aufgerufen worden. Anne wich ihr nicht von der Seite, wollte aber keinen von uns dabei haben, weshalb ich jetzt wie ein Hund vor der Tür warten musste und hoffte, niemanden zu sehen den ich kannte. Stefan hatte den Kopf zurück an die Wand gelehnt und schien zu schlafen. Er hatte die Augen geschlossen und die Hände in den Hosentaschen vergraben.  Doch als er plötzlich anfing zu reden, strafte es seinem Aussehen Lügen. „Ich hasse Krankenhäuser.", sagte er missmutig und seufzte. „Die machen mich immer schwermütig. Als würde all die Freude draußen bleiben und nur einen schwachen, kränklichen Bruder dalassen." „Hoffnung", ergänzte ich seinen deprimierenden Worten träge. Stefan öffnete die Augen und sah mich forschend an. „Ich meinte eigentlich die Freude, dass nicht schlimmeres passiert ist. Eine Heuchelei, um sich abzulenken wie schlimm es wirklich ist.", erklärte er. Ich versuchte zu erraten was er dachte, aber seine Miene blieb schwer zu deuten. Schnaubend sah ich weg. Ich hasste es, wenn er etwas kluges sagte, wenn er richtig lag. Einfach richtiger als ich. „Wie auch immer.", murmelte ich leicht genervt und starrte auf den weiß gefliesten Boden, der mir so schrecklich bekannt vorkam. Es fühlte sich an, als wäre seit meiner Entlassung kein Tag vergangen. Alles war noch wie vorher. Das rege Treiben der Schwestern und Ärzte, der Geruch nach Desinfektionsmittel und lieblos angerichtetem Krankenhausessen und auch das Gefühl. Ich fühlte mich gefangen, als müsse ich hierbleiben, wenn ich zu lange verweilte. Das alles war irgendwie beklemmend und ich sehnte den Moment herbei, wenn wir diesen Ort wieder verließen. Zu viele schlechte Erinnerungen, zu viele Gedanken, die ich in diesen Wänden schon gedacht hatte.

Stefan seufzte tief und durchbrach damit unser Schweigen. „Weißt du... ich habe jetzt lange darüber nachgedacht, ob ich dir das wirklich erzählen will, aber irgendwie... will ich das du es weißt.", begann Stefan mit komisch belegter Stimme, als würde es ihm wirklich schwer fallen die Worte zu formulieren. Ich sah ihn an, verwundert über seine plötzliche Stimmungsänderung. Stefan blickte auf und schluckte sichtlich. Dann begann er leicht zu lächeln und sah zu mir. „Ich mag Anne... Ich mag sie mehr als ich wahrscheinlich sollte. Heute morgen, als sie weggelaufen ist hatte ich so eine Angst ihr könnte etwas passiert sein. Ich konnte kaum denken vor Angst und ich hätte alles getan um sie wieder zurückzuholen.", gestand Stefan langsam und forschte in meinem Blick. Doch ich war nicht wütend, ich hatte es ja schon gewusst. „Ich weiß, dass sie mich nicht mag. Nach allem was passiert ist, ist das wohl normal. Aber ich habe meine Gründe warum ich so gehandelt habe.", sprach er weiter. Seine Augen wurde traurig, doch er lächelte weiter. „Ich hasse dich so sehr dafür, dass sie dich lieber mag. Das du an ihrer Seite sein kannst und nicht ich. Gott, immer wenn sie bei dir ist will ich am liebsten schreien, weil ich weiß, dass sie nie freiwillig zu mir kommen würde. Du bist der Glückliche... mal wieder." Stefan Lächeln erstarb und er wandte den Blick ab. Ich war erschlagen von so viel Ehrlichkeit und wusste nicht, wie ich damit umgehen sollte. Ich stieß die Luft zischen aus, unter der Last, die Stefan mir gerade auferlegte. „Hättest du mir das mal lieber nicht gesagt. Was willst du jetzt von mir hören?", fragte ich und sah wieder auf den Boden. Ja, ich hatte es gewusst, aber es jetzt so zu hören war befremdlich und neu. Stefan lachte trocken und freudlos auf. „Gar nichts. Du musst nichts dazu sagen. Ich will einfach, dass du es weißt." Ich brummte unzufrieden. „Warum?", fragte ich verwirrt. „Damit du verstehst warum ich so handle wie ich es tue. Warum ich für Anne alles machen würde, ich würde ihr jeden Wunsch erfüllen um den sie mich bittet. Auch, wenn ich bei ihr nie eine Chance haben werde. Aber das ist in Ordnung, solange sie bei dir glücklich ist. Also mach sie gefälligst auch glücklich...", schloss er und ließ mich nicht weniger verwirrt zurück. Ich sah die Fliesen an und versuchte mir einen Reim auf sein Geständnis zu machen. Wollte er mich verunsichern? Mir eine Schuld zuweisen, für die nichts konnte? Oder wollte er Mitleid für seine tragische Situation, die ich nicht ganz verstehen konnte? Immerhin hatte er laufend Frauen um sich, die ihn bespaßten. Judith zum Beispiel war ihm vollkommen verfallen, sie lang ihm praktisch zu Füßen, obwohl so eine starke Frau wie sie das gar nicht nötig hatte. War sie ihm völlig egal? Das konnte und wollte ich nicht glauben.

Die Tür neben uns öffnete sich und ein Arzt mit Anne und Julie kam zum Vorschein. „Dann wünsche ich Ihnen noch gute Besserung.", meinte er freundliche schüttelte Annes und Julies Hand und verschwand nach einem kurzen Abschied wieder in seinem Büro. Anne wirkte erleichtert. „Und, wie schlimm ist es?", fragte Stefan nicht minderinteressiert. Anne schüttelte lächelnd den Kopf. „Nicht so schlimm wie ich befürchtet habe. Ein Haarriss und ein Hämatom, aber kein Bruch. Es wird also von allein mit der Zeit heilen.", erzählte sie zog Julie zu sich heran und umarmte sie vorsichtig. „Das heiß wir können nach Hause?", fragte ich und Anne nickte. „Ja, wir können nach Hause."

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