„Wo ist eigentlich Anne?", fragte Julie irgendwann frei heraus, als ich ihr die fertigen Pancakes mit dem Pfannenwender auf einen Teller legte. Ich sah nicht auf, sondern tat konzentriert, damit ich . „Sie ist noch im Bett. Ich habe sie schlafen lassen.", antwortete ich wie nebenbei und erwiderte Julies fragenden Blick nicht. Sie war keine neun mehr, sie sollte bemerkt haben wie ich und Anne zueinander stehen. „Als ich sie eben gesehen habe, wirkte sie hellwach.", warf Stefan amüsiert ein und zog meinen mahnenden Blick auf sich. „Vielleicht habe ich mir das auch nur eingebildet, ich meine, ich dachte auch ich hätte gesehen, dass ihr-" „Stefan! Ich misch mich auch nicht in deine Angelegenheiten ein. Also verkneif es dir.", unterbrach ich ihn derbe. Julie stand etwas hilflos dazwischen und schien nicht zu wissen was sie tun sollte. „Schon gut! Kein Grund gleich wütend zu werden. Ich wollte nur-" Sein Satz blieb unvollständig. Ich sah zu ihm hin, nachdem ich den letzten Pancake auf Julies Teller gehoben hatte. Er wirkte beinahe abwesend, den Blick unergründlich in die Ferne gerichtet, den Kopf leicht zur Seite geneigt als würde er auf etwas lauschen. Stille legte sich über die Küche. „Was ist?", fragte ich irritiert. Stefan schüttelte langsam den Kopf, der Blick unverändert. „Ich dachte, ich hätte gerade etwas gehört...", sagte er mit gedämpfter Stimme. Ich zog die Augenbrauen hoch und wollte gerade fragen, was er denn meint gehört zu haben, als ich einen Schrei hörte. Er war nicht laut und brach schnell ab, aber es reichte aus, um mich in eine Alarmbereitschaft zu versetzen wie ich sie schon lange nicht mehr verspürt hatte. „Was war das?", fragte Julie mit einem leichten, ängstlichen Zittern in der Stimme. Ihre Augen wurden groß und glasig, vor Schreck. Sie wusste was das war, ihr Kopf wollte nur die Hoffnung wahren, dass hier und jetzt nichts schlimmes passieren konnte. Ich berappelte mich zu einem kleinen, beruhigenden Lächeln. „Stell die schon mal auf den Tisch und warte hier auf uns. Wir gehen nur kurz nachsehen, was das war.", meinte ich in einem freundlichen Ton, als wäre nur ein Vogelhaus draußen umgefallen und erinnerte sie an den Teller in ihren Händen auf dem noch immer Pancakes vor sich hin dampfte . Julie nickte unsicher mit zusammengepressten Lippen und ging brav zum Tisch, wie ich es ihr gesagt hatte. Ich warf einen Blick zu Stefan, der im stillen Einverständnis nickte und schon mal zu Tür vorging. Als könnte er Gedanken lesen und ich hätte ihm sagte, dass wir gemeinsam nachsehen sollten was passiert war. Nur für den Fall der Fälle war Stefan mobiler als ich und schneller etwas ausrichten. So sehr das auch an meinem Stolz kratzte. Aber jetzt war nicht der Augenblick für das Versinken in Selbstmitleid über meinen schwächlichen Zustand.
Wir verließen die Küche und sahen die offene Haustür. Ein weiterer Schrei erklang, diesmal lauter, gequälter. Es kam eindeutig von draußen. Während ich Stefan bedeutete schon mal rauszugehen, holte ich die Pistole von dort, wo ich sie gestern Abend abgelegt hatte. Ich nahm sie von meinem Nachttisch und kam nicht umhin zu bemerkte, dass das Zimmer nun mit Helligkeit gefüllt war. Jedenfalls teilweise. Einige Bretter waren verschwunden und bildeten eine Lücke, durch die ich jedoch nicht schauen konnte, weil sie zu hoch lag. Wäre ich nicht so unter Strom hätte auch das mich mehr gestört.
Eilig machte ich mich auf den Weg zur Tür, als ein Brüllen mich erzittern ließ. Diesmal war es eindeutig Stefan und er war wütend. Wütend, wie ich ihn schon lange nicht mehr erlebt hatte. Es hallte draußen von den Nachbarhäusern wieder und verbreitete auf den leeren Straßen. Es erschütterte mich so sehr, dass ich fast die Treppe in den Garten hinabfiel. Ich hielt mich mit einem Arm an einem der stützenden Balken fest, die Räder meines Rollstuhls tief im Schnee versenkt und schaute mit geübten Bewegungen nach, ob die Pistole geladen war. Kälte erfasste mich mit rauem Wind, der jedoch keinen neuen Schnee bei sich trug. Er zerrte an meinem Shirt und meinem Haar, strich wie tausend kalter Nadeln über meine Wangen. Fünf Schuss, mehr nicht, das musste für den Moment reichen.
Ich steckte die Waffe einmal mehr gesichert in meinen Hosenbund und warf einen grimmigen Blick zur Treppe. Ich würde es nicht mit Rollstuhl darunter schaffen ohne mir wehzutun, ganz zu schweigen davon, dass ich in dem tiefen Schnee nicht einen Meter kommen würde. Also wandte ich mich zum linken Rand der Veranda, schob einige zugeschneite Pflanzentöpfe bei Seite und stemmte mich aus dem Rollstuhl an dem Geländer hoch. Ich würde mich ganz sicher nicht von meiner körperlichen Behinderung aufhalten lassen. Nicht jetzt! Nicht für Anne! Denn ich war immer noch ein Mann... ein Soldat.
Ich schaffte es, vollgepumpt mit Adrenalin, welches mich von innen wie ein Feuer antrieb, mich über das Geländer zu hieven und landete dann auf der anderen Seite in den verschneiten Büschen meiner Mutter, die meinen Fall notdürftig abfingen. Es hätte mehr wehtun sollen, aber ich spürte in dem Moment nichts außer dem elementaren Bedürfnis Anne vor allem und jedem zu beschützen, der sie so zum schreien brachte.
Ich rollte mich in eine sitzende Position und begann mich mit den Armen so Stück für Stück vorzuziehen. Weder die Kälte des Schnees, die meine Bewegungen noch zusätzlich beschränkte, noch die Anstrengung dieser ungewohnten Bewegung hielten mich auf mich Meter für Meter um die Hausecke zu kämpfen. Und die Szene, die mich dort erwartete ließ mich schockiert zusammenfahren. Anne lag neben im Schnee, regungslos, während Stefan auf einem mir fremden Mann kniete und auf ihn einschlug bis auch dieser keine Bewegung mehr zeigte. Ich zog mich so schnell ich konnte zu Anne vor und hob ihren Oberkörper aus dem Schnee. Sie war kühl und aus ihrer Nase lief Blut, ihr ganzes Gesicht war rot und blau. Offensichtlich war sie bewusstlos, ich konnte kleine weiße Wolken unter ihrer Nase sehen, die nicht von dem sich abkühlenden Blut stammten. Sanft strich ich ihr mit dem Daumen eine vom Schnee feuchte Haarsträhne aus der Stirn und drückte ihr einen hauchzarten Kuss auf, ehe ich mit finsterem Blick zu Stefan aufsah, der nun von der Person runtergerollt war. Schwer atmend saß er neben dem Mann im Schnee und sah ihn an wie das Böse selbst. Angewidert und mit solch einem Hass wie ich es ehrlich gesagt noch nie bei Stefan gesehen hatte. Der mittelalte, beleibte Mann mit dem strähnigen Haaren blieb bewusstlos niedergestreckt, das Gesicht ähnlich zerschlagen wie Annes. Stefan hatte ordentliche Arbeit geleistet. Doch was mich am meisten verstörte, war die Tatsache das ich ihn nun, da ich ihn länger betrachtete wiedererkannte. Ich erkannte in ihm den Mann aus der Zeitung, das Bild des Frauenmörders, welches seit Tagen durch die Presse geisterte. Nach dem Mann, nach dem die Polizei suchte, der seine Frau ermordete, dessen Kinder... Stiefkinder!... von zuhause weggelaufen waren, um sich zu retten. Dieser Mann, aus dessen Hosentasche bei der Rangelei mit Stefan ein kaputtes Portemonnaie rausgefallen war und auf dessen Ausweis Henry Johnnson stand.
Mir wurde es speiübel und unwillkürlich drückte ich Anne etwas fester an mich. Konnte das sein? Konnte es diese schrecklichen Zufälle geben? Alles schien nun Sinn zu machen, Annes und Julies Angst vor Henry, warum sie fortgelaufen waren, warum sie kaum darüber sprechen wollten. Alles machte nun so einen erschreckenden Sinn und das Bedürfnis keimte in mir auf, Henry gleich weiter zu schlagen, obwohl er schon bewusstlos war. „Ist sie verletzt?", riss Stefan mich aus meinem aufgebrachten Tunnelblick und richtete meinen Blick wieder auf Anne. Sie sah klein und zerbrechlich aus, zu jung für das alles hier. „Sie ist bewusstlos.", gab ich hölzern wieder, was offensichtlich war. Ich schaute langsam zu Stefan auf, der besorgt auf Anne sah. In seinen Augen spielten gleich mehrere Emotionen gegeneinander, die ich nur allzu gut nachempfinden konnte, denn ich fühlte sie auch in mir wüten. Ein Gemisch aus Sorge, Wut und Angst. „Wir sollten reingehen und die Polizei rufen."
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Soldiers Scars #PlatinAward
Ficção Geral„Krieg... Krieg macht dich zu einem Menschen der du nicht sein willst. Er zerfrisst dich von innen nach außen, bis nichts mehr von deinem alten Ich übrig ist." Derren McConnell ist gerade mal 22, als er für zwei Jahre nach Vietnam in den Krieg gesch...