Kapitel 47 - Endstation

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„Endstation, die Damen!", rief der Busfahrer durch einen mittlerweile leeren Bus. Leer, bis auf Anne und Julie, die sich gesetzt hatten und während der Fahrt trübe aus den Fenster geschaut hatten, wie die Welt an ihnen vorbeizog. Nun schaute Anne raus, um zu sehen wo sie waren. Die Straße war breit und leer. Auf ihrer Seite waren mehrere ziemlich rostige Autos auf einem eingezäunten Parkplatz gelagert und auf der anderen Seite erhob sich eine kalt und verlassen wirkende Fabrik. Sie mussten irgendwo am Hafen sein, aber wo genau konnte Anne aber nicht sagen. Julie hob erschöpft den Kopf von Annes Schulter. Die Ruhe in dem Bus hatte ihr gut getan, eingelullt von dem monotonen Geräusch des Motors und eingerollt in mehrere Jacken, die sie sich aus dem Koffer geholt hatte. „Aussteigen, bitte!", drängelte der Busfahrer ungeduldig, und sein unfreundlicher Blick unter den buschigen Augenbrauen fand sie im Rückspiegel. Anne schluckte ihre Trägheit runter und schob sich vom Sitz, Julie folgte ihr unter Ächzen. Zögernd stiegen die beiden aus und fanden sich im knöcheltiefen Schnee, in der Einsamkeit eines Industrieviertels wieder. Der graue Himmel war unmerklich dunkler geworden und als hätte er es eilig, rauschte der Bus im Schnee davon. Nur die Spuren der Reifen im Schnee blieben zurück.

Julie schlag die Arme um den Körper vor Kälte und sah sich ihrerseits um. „Wo um alles in der Welt sind wir?", fragte sie und trat von einem besockten Fuß auf den anderen. Anne konnte auf den ersten Blick sehen, dass sie klitschnass waren und wahrscheinlich halb erfroren sein würden wenn sie nur ein paar Minuten länger darauf lief. „Keine Ahnung. Aber gerade ist mir alles lieber, als zuhause.", meinte Anne missmutig und konnte weder rechts noch links die Straße runter ein Wohnhaus oder eine größere Straße sehen. Wahllos entschied sie sich also dafür, nach links zu gehen, nahm Julie wieder bei der Hand, als sie zu ihr aufschloss und versuchte nicht darüber nachzudenken, was gerade passierte. Der Schnee knirschte unter ihren Schritten und ihr Atem bildete weiße Wolken vor ihren Mündern. Es war klirrend kalt, zu halt für Schneeflocken. Und in Anne herrschte ein Durcheinander der Gefühle. Sie war wütend auf Henry, dass er ihnen das antat; traurig und gleichzeitig froh weggelaufen zu sein; zunehmend ängstlich, wegen ihrer jetzigen Situation und in Sorge um Julie, die sich zwar tapfer hielt, aber dennoch merklich Schmerzen hatte. Bei jedem zweiten Schritt zuckte sie zusammen und versuchte sie ansonsten so steif wie möglich zu bewegen, um ihren Brustkorb keine weiteren Erschütterungen beizubringen, als sie das bei jedem Atemzug sowieso schon tat. Zudem hatten sich ihre Füße zusammengeballt in der verzweifelten Hoffnung, so weniger zu frieren. Anne ertrug es kaum, Julie bei ihrem Kampf zuzuschauen.

Sie waren noch nicht so weit gekommen, als Anne stehen blieb. „Komm. Ich trage dich. Immerhin habe ich auch vergessen dir Schuhe mit einzupacken, daran hätte ich denken müssen.", erklärte Anne und machte sich bereit Julie auf den Rücken zu nehmen. Diese protestierte aber. „Nein! Ich bin viel zu schwer für dich!" Anne zuckte mit den Schultern und tat so, als wäre das nicht die Wahrheit. „Das werden wir ja sehen. Und jetzt komm, oder willst du, dass deine Füße auf dem Weg vor Kälte absterben?", forderte Anne Julie auf. Auch Anne war mittlerweile mehr als fertig von dem Tag, aber sie würde ganz sicher nicht zulassen, dass Julie sich mehr quälte als nötig. Schließlich war Anne die Ältere, sie musste auf ihre Schwester aufpassen, auch wenn sie gerade selbst gern jemanden gehabt hätte, der auch sie aufpasste. „Aber wenn ich dir zu schwer werde laufe ich wieder selbst.", gab Julie nach einigem Zögern mit einem resignierten Unterton zurück. Anne konnte sehen, dass sie mit der Tatsache rang, dass ihre Füße und ihr restlicher Körper sie fast in Ohnmacht fallen ließen vor Schmerz und gleichzeitig nicht wollte, dass Anne sich übernahm. Doch die Schmerzen siegten. Kurz darauf kletterte sie auf Annes Rücken, die unter dem Gewicht kurz zusammensackte und es nur mit äußerster Anstrengung schaffte aufzustehen. „Siehst du, ein Kinderspiel! Du bist leicht wie eine Feder.", witzelte Anne trocken, taumelte kurz und probierte den ersten Schritt. Dann noch einen und noch einen. Der Koffer bildete in Annes Hand eine ungleiche Last, die sie bei jedem Schritt drohte, aus dem Gleichgewicht zu bringen. Doch Anne biss die Zähne zusammen und schritt voran, immer einen Schritt vor den anderen, während sie merkte, wie die Nässe und Kälte sich ihren Weg durch ihren Schuh bahnte. Es wird alles gut, sprach sie sich gedanklich zu. Ich schaffe das!

Einige hundert Meter später, Anne war es nun immerhin nicht mehr kalt und sie atmete schwer unter Julies Gewicht, kamen sie an einer Kreuzung an. Es war eine größere Straße, die jedoch genauso menschenleer war, wie die zuvorige. Die Reifenspuren waren das einzige, was davon zeugte, das hier Menschen längs gekommen waren. „Wo sind denn alle? Müssen wir nicht irgendjemanden sehen?", fragte Julie leise, man konnte ihr ihre Entrüstung anhören. Anne schnaubte schwach und sah sich um. Die vergessene Weihnachtsbeleuchtung blinkte in dem obersten Fenster einer Fabrik, wahrscheinlich eines der Büros, von denen aus man einen Blick auf das grau-blaue Wasser hatte und färbte den Schnee darunter in wohlige, wechselnde Farben. Ein Weihnachtsmann hob rotwangig und füllig die Hand zum Gruß, er strahlte ein warmes, heimeliges Licht aus und hätte sich besser auf dem Fenstersims eines idyllischen Familienhauses gemacht. Hier wirkte er wie ein vergessenes Zeugnis einer Stimmung von Geborgenheit und Freude, die Anne ihre Lage nur noch bewusster machte. „Es ist bald Weihnachten, Julie. Wahrscheinlich haben sich die meisten Leute ein paar Tage frei genommen, um bei ihren Familien zu sein.", antwortete Anne mit unterschwelliger Melancholie und wandte den Blick vom Fenster zur leeren Straße. Sie fühlte sich allein, überfordert und hilflos, was in solchen Momenten zutun war. Gerade jetzt wurde dieses Gefühl übermächtig. Immerhin tröstete es sie, dass Julie da war, sodass sie überhaupt mit jemanden reden konnte. Anne hätte nicht gewusst, was sie ohne Julie gemacht hätte.

Die Hilflosigkeit zurückdrängend beschloss Anne weiter zu gehen. Sie musste in Bewegung bleiben, denn wenn sie stehen blieb kroch ihr die Kälte in die Glieder wie ein Raubtier, das sie nach und nach verschlingen wollte. Sie versuchte Julie beim Gehen weiter hochzuschieben, weil Anne fühlte, dass sie ihr mit jedem Schritt weiter entglitt und drohte unsanft auf dem Boden zu landen. Julie sog schmerzerfüllt die Luft ein, half aber mit und entlastete Annes wie Feuer brennende und bald auch zitternde Arme kurz. Anne war sich sicher, würde sie die Arme nur einmal nicht mehr angestrengt in ihrer Position halten, die Julie stützte, würde sie die Arme für den Rest des Tages nicht mehr heben können. Also biss sie die Zähne zusammen und ging weiter. Immer einen Schritt vor den anderen.

Als es dunkelte und die Sonne hinter der Wolkendecke verschwand wurde es von Minute zu Minute kälter. Annes Füße waren mittlerweile ebenfalls bis auf die Socken nass und eiskalt. Sie glaubte kaum noch sie bewegen zu können und presste die Lippen aufeinander, damit sie nicht zitterte. Sie und Julie hatten mittlerweile eine große Straße erreicht und verfingen sich in den unendlichen Wohnvirteln des Bostoner Südens. "Ich bin müde.", hauchte Julie und ließ den Kopf schwer auf Annes Schulter sinken. Sie nickte zustimmend, stumm vor Anstrengung und Kälte. Aber wo sollten sie schlafen? Hier draußen konnten sie nicht bleiben, sie würden die Nacht nicht überleben, dass war Anne klar. Und die Busse fuhren auch nicht mehr, dass sie irgendwo hingehen konnten oder sich wenigstens für die Fahrt lang aufwärmen konnten. Die ersten Busse würden erst wieder um vier Uhr morgens fahren, also noch acht Stunden, die sie überbrücken mussten bis... ja was eigentlich? Anne hatte nur wage eine Idee wo sie hingehen konnten, aber es fiel ihr schwer, diese Möglichkeit in Erwägung zu ziehen. Derren... Wenn sie Glück hatte würde seine Familie Julie und ihr nicht sofort wie streunenden Katzen die Tür vor der Nase zuschlagen. In allen anderen - realistischen - Überlegungen wären seine Familie mindestens äußerst unerfreut sie bei sich zu haben. Immerhin würden sie mitten in der Nacht, vollkommen abgerissen und müde vor ihrer Haustür stehen. Nachdem, was letztens beim Dinner passiert war mussten sie ohnehin schon verwirrt sein, was denn nun zwischen Stefan und Anne war. Er hatte sie ja schließlich groß als sie Freundin vorgestellt, bevor sie sich den Rest des Essens nahezu ignoriert hatten.

Allein der Gedanke jetzt dort aufzukreuzen verursachte Anne Magenschmerzen, aber viele Alternativen hatten sie nicht. Bei jemand vollkommen Fremdes unterzukommen schreckte Anne noch viel mehr ab und einfach in irgendein Gartenhaus einzubrechen würde ihnen nicht nur die Polizei auf den Hals hetzen, Anne wäre auch viel zu gutherzig dafür. Vor lauter Schuldbewusstsein würde sie sogar warten bis die Polizei da war und dann? Dann waren sie wieder da, wo sie angefangen hatten. Bei einem außer sich seienden Henry. Anne schüttelte erschöpft den Kopf und schluckte trocken. Von hier aus war es weit bis zu Derren, fast vier Stunden; ein langer und kalter Fußmarsch, der Anne alle Kräfte rauben würde. Aber eine der besten Möglichkeiten, die ihnen jetzt blieb, auch wenn Anne sich innerlich wandt vor den Blicken und Fragen, die unweigerlich folgen mussten.

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