Kapitel 66 - Geständnisse

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Mutter klang nicht wütend, einfach nur atemlos und nicht fassend, was sie hier vor sich hatte. Sie warf einen Blick zu ihrem Mann, ob er anders reagierte, mehr wusste, aber auch er schien nicht ganz zu wissen, was hier vor seinen Augen passierte. Ich ließ meine unwissentlich angehaltene Luft zischend entweichen. „Ich verlange sofort eine Erklärung.", fügte sie hinzu. Ich schluckte betreten, fing Stefans Blick aus den Augenwinkeln auf. Er bedeutete mir, dass er versuchen wollte es zu erklären, aber ich schüttelte kaum merklich den Kopf. Es war meine Aufgabe das jetzt zu erklären. Keine Geschichten mehr, keine Lügen, die das Vertrauen meiner Eltern zerstören würde. Also atmete ich tief durch und begann zu reden. „Bevor ihr gleich Fragen stellt bitte ich euch, bis zum Ende meiner Erklärung. Also... wo soll ich anfangen?" Ich befeuchtete meine trockenen Lippen. „Vor fast einer Woche standen Julie und Anne unerwartet vor unserer Tür. Stefan hat die beiden natürlich sofort reingelassen. Sie standen völlig unter Schock und waren halb erfroren, selbst wenn wir es gewollt hätte, wir konnten sie nicht wieder fortschicken. Draußen war es kalt und viel länger hätten sie es nicht geschafft. Zu diesem Zeitpunkt wussten wir auch noch nicht, was vor sich ging, aber wir versprachen ihnen, sie erstmal aufzunehmen. Zudem waren sie verletzt, Julie vor allem." Ich warf ihr einen kurzen Blick zu, den sie mit einem kurzen Nicken bestätigte. „Wir brachten sie deswegen vor zwei Tagen ins Krankenhaus. Zum Glück ist nichts gebrochen oder schlimmer verletzt.
Sie erzählten uns was passiert war, aber das Ausmaß dieser Geschichte wurde auch mir erst vor kurzer Zeit bewusst." Ich atmete noch einmal tief durch und drückte Anne etwas fester an mich. „Sie liefen vor ihrem Stiefvater davon. Henry. Der Mann, den die Polizei sucht, und von dem halb Boston ausgeht, dass er ein fuchteinflößender Psychopath ist, der weggesperrt werden sollte. Der gleiche Mann, der sie prügelte und aus ihrem Zuhause vertrieb. Der gleiche Mann... der jetzt niedergestreckt im Geräteschuppen liegt und auf seine Polizeieskorte wartet.
Sie brauchen unsere Hilfe, und der Teufel will mich holen, wenn ich Anne oder Julie mit dieser Scheiße allein lasse.", endete ich mit wütendem Eifer, dass auch darauf erstmal Stille folgte. Ich war selbst überrascht wie grimmig und entschlossen ich klang. Beinahe wie der alte Derren, der tat, was er sich in den Kopf gesetzt hatte, egal was oder wem er sich dafür in den Weg stellen musste.

„Ich brauche noch einen Kaffee.", war das erste was Mutter hervorbrachte, drehte sich auf der Türschwelle um und klapperte kurz darauf in der Küche mit fahrigen Fingern. Vater stieß zischend die Luft aus, fuhr sich durch das Haar und dann über das Gesicht, in dem sich einige Falten mehr als sonst abzuzeichnen begannen. „Frohe Weihnachten...", grummelte er resigniert zu sich selbst und seufzte tief. Ich presste die Lippen aufeinander. Jetzt war es also raus. Jetzt wussten meine Eltern die Wahrheit, warum Anne und Julie hier waren. Auch, wenn ich mit einer ähnlichen Reaktion gerechnet hatte, und ich mir nur im mindesten Vorstellen konnte, was die beiden gerade dachten, fiel es mir schwer einfach abzuwarten, was die beiden dazu sagten. Stefan setzte sich demonstrativ zu uns aufs Sofa und verschränkte die Arme vor der Brust. Ich war ihm für seine Solidarität dankbar. „In der Tat, die Bescherung ist heute vorgezogen und wir haben uns alles über das Geschenk gefreut.", meinte Stefan trocken ohne auch nur den Funken des Humors, den seine Worte versprachen. Er wirkte bitter ernst, seine für das Lächeln gemachten Lippen waren zu einem harten Strich verzogen. Das Geschenk, das er ansprach schien direkt aus der Hölle... Aus Annes und Julies ganz persönlicher Hölle, in der sie vor knapp einer Woche jeden Tag leben mussten. Kaum vorstellbar, wie sie das überhaupt so lange ertragen konnten. In mir regte sich wilde Wut darüber, was mir hier nur als die spitze des Eisbergs präsentiert wurde. Vater brummte lange und tief. „Und die Polizei ist schon verständigt?", fragte er nach einem tiefen Einatmen, als er endlich wieder Worte gefunden hatte. Stefan nickte. „Das war das erste was ich getan habe, bevor ich den Fettsack in den Schuppen geschleift habe. Sie sagten, dass sie in spätestens zehn Minuten da sind, um ihn mitzunehmen." Vater nickte kurz, als würde er einen Punkt von einer Liste streichen und sah dann zwischen Anne und Julie hin und her. „Und euch Mädchen geht es gut? Brauchst ihr vielleicht einen Krankenwagen oder sowas?", fragte er sachlich, woraufhin Julie mit einem Kopfschütteln antwortete. Anne schniefte noch einmal, dann drehte sie sich zu meinem Vater um und schüttelte ebenfalls den Kopf, obwohl ich mir in ihrem Fall gar nicht so sicher war, ob sich ihr Verletzungen nicht doch lieber ein Arzt anschauen sollte. „Es geht schon.", murmelte sie leise und schluckte, um sich zu fassen. Er runzelte zweifelnd die Stirn als er sie betrachtete. Doch als er etwas sagen wollte, gab ich ihm ein Zeichen, es darauf zu belassen. Wir würden noch Zeit haben uns darum zu kümmern, wenn sich der Staub der Ereignisse gelegt hatte und solange Anne nicht aktiv litt.

Vater kratzte sich die grau-braunen Bartstoppeln, unschlüssig was er jetzt machen sollte, sein Blick haftete an uns allen einige Sekunden lang. „Gibt es da irgendwelche Verwandten, die man kontaktieren kann und die sich jetzt um euch kümmern?", fragte er schließlich an Anne gerichtet. „Unsere Mutter", antwortete Julie an ihrer Stelle. Mein Vater verzog das Gesicht halb mitleidig, halb irritiert. Sein Gesicht furchte sich tiefer. „Vielleicht ist das jetzt erstmal keine gute Idee.", sprang ich schnell ein. „Außerdem..." Ich dämpfte die Stimme, damit Mutter es in der Küche nicht gleich hörte. „Außerdem habe ich Anne bei der Polizei als meine Verlobte vorgestellt, damit sie erstmal sicher bei uns ist und bleiben kann." Vater wurde schlagartig weiß um die Nase und er sah aus, als hätte ihm jemand ins Gesicht geboxt. Das wäre dann jetzt auch raus. Und so erleichtert ich mich eigentlich fühlen sollte, umso mehr fürchtete ich jetzt das es zu viel auf einmal gewesen war. Er presste die Lippen aufeinander und fuhr sich noch einmal durchs Haar, diesmal zitterte seine Hand sichtlich. „Du hast was?", fragte er mit trocken brummender Stimme, erschüttert und absolut ungläubig. „Ich weiß, dass ist jetzt alles etwas viel auf einmal.", versuchte ich vorsichtig und suchte als meiner Hosentasche Mutters Ring. Mein Vater wurde noch etwas bleicher. „Aber der Spuk ist fast vorbei. In wenigen Minuten taucht die Polizei hier auf und nimmt Henry mit um ihn zu verhaften. Und so lange ist Anne noch meine Verlobte.", sagte ich mit selbstbewussten Nachdruck, der keine Widerrede erlaubte, ergriff Annes zarte Hand und legte den Ring in ihre Handfläche. Vater starrte mich einige Sekunden an. Sein Blick war dunkel und unergründlich, nicht zu erraten, welche Gedanken sich dahinter verbargen. Schließlich nickte er knapp, schnaubte hart und ging dann auf mich zu. Ich wich nicht zurück sondern sah zu, wie dieser Mann auf mich zukam und dann vor dem Sofa, vor mir stehen blieb. Er sah mich eindringlich an, ehe er sich zu Anne runter beugte, nun seinerseits ihre Hand ergriff und ihr den Ring über den Ringfinger streifte. Dann richtete er sich wieder auf und sah wieder mich an. „Wenn ich helfen kann, werde ich das tun.", meinte er mit seiner tiefen, autoritären Stimme. Mir entfloh ein erleichtertes Lächeln. „Danke", sagte ich froh. Jetzt konnte eigentlich nichts mehr schief gehen.

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