Kapitel 65 - Ohnmacht und Tränen

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Ich hatte Stefan gebeten, Anne reinzutragen, während ich aufpasste, das Henry nicht zufällig aufwachte und versuchte zu fliehen. Dabei musste ich zugeben, dass ich mir schon fast wünschte, er würde sich bewegen, damit ich ihn höchst persönlich wieder ins Land der Träume befördern konnte. Aber diesen Gefallen tat er mir nicht, er lag wie tot im Schnee, rührte sich nicht und sonderte einen abartigen Gestank ab. Als ich allein mit ihm war, konnte ich meine Neugier nicht zurückhalten und griff nach dem Portemonnai. Das Bild auf seinem Passfoto sah erschreckend normal aus, beinahe unmöglich, dass es zu diesem Mann gehörte. Er sah jünger, dünner und gut frisiert aus, aber seine Augen waren schon damals ausdruckslos und ohne Glanz gewesen. Außerdem entnahm ich dem Ausweis das er 55 Jahre alt war, gebürtiger Amerikaner und die Organspende ablehnte. Na herzlichen Glückwunsch, als würde irgendjemand seine Organe haben wollen. Neben einigen Notgroschen und einem bereits abgelaufenen Gutschein für den nächsten Fastfood-Laden entdeckte ich ein kleines Plastiktütchen mit pulverigem, weißen Inhalt. Ich musste es nicht probieren, um zu vermuten was das war. Er war also nicht nur betrunken.

Stefan kam wenig später wieder. Ich steckte das Tütchen zurück in den Lederumschlag und schob dieses zurück in Henrys Hosentasche. Und wieder sah Stefan aus, als würde er am liebsten noch einmal zutreten, um sicherzugehen, dass Henry wirklich weg war. Aber das würde das Maß der reinen Selbstverteidigung übersteigen und später schwer vor Gericht zu erklären sein. Also entschied er sich sichtlich widerwillig Henry nicht die Nase zu brechen und sah mich stattdessen an. "Wo wollen wir jetzt mit ihm hin? Bis die Polizei da ist, ist er erfroren.", fragte er grimmig. Und es war klar, dass es keinen von uns beiden weiter stören würde, wenn die Natur ihren Beitrag leisten würde. Ich brummte überlegend und sah zum Haus. "Hm... Ich fühle mich nicht wohl dabei, ihn irgendwo im Haus unterzubringen, ganz zu schweigen davon, dass ich keine Ahnung habe wo. Ich glaube auch nicht, dass es Anne und Julie guttun würde Henry in unmittelbarer Nähe zu wissen. Die beiden sind sowieso schon traumatisiert genug. Andererseits wäre es einfacherer für uns ihn so im Auge zu behalten bis die Polizei kommt um sich um ihn zu kümmern. Oder was meinst du, wo wir ihn sonst hinbringen könnten?", dachte ich laut. Stefan schnaufte verächtlich und zog die Augenbrauen hoch, als hätte er da schon eine Idee. "Im Schuppen?", meinte er toternst und sah mich erwartungsvoll an.

*

Stefan hatte sich etwas zu schnell bereit erklärt Henry im Schuppen einzusperren, während ich mich um Anne drinnen kümmern wollte. Ich nahm es so hin und ließ ihn machen, ehe ich mich zurück zur Haustür schleppte. Es war nicht meine Absicht - oder mein Verlangen - ihn aufzuhalten, wenn es ihm danach besser gehen würde, sollte Stefan Henry für sich haben. Meine Kleidung war mit kaltem, geschmolzenen Schnee durchtränkt, als ich mich die Treppe hoch zerrte und endlich wieder in meinem Rollstuhl zu sitzen kam. Meine Muskeln in den Armen brannten und alles an mir fühlte sich klamm und kalt an, aber ich gab mir keine Zeit zu rasten. Im Haus wartete Julie in Tränen aufgelöst und mit dicken, roten Augen mit der immer noch nicht zu Bewusstsein gekommenen Anne. Sie lag unter einer Decke auf dem Sofa. Julie saß auf der Lehne wie eine Eule mit angezogenen Knien und schaute mich an wie ein Geist, als ich reinkam. Ich schluckte den Kloß in meiner Kehle runter und rollte zu den beiden. „Er war es, nicht wahr?", fragte Julie mit heiserer Stimme und weit aufgerissenen Augen. „Er ist hier, ich habe es doch gesagt. Ich habe gesagt, dass ich ihn gesehen habe. Aber ihr wolltet es nicht glauben, ihr wolltet es nicht hören. Und jetzt ist es passiert. Es ist passiert." Sie wiederholte ihre Worte, als könnte sie so etwas ändern an dem hier und jetzt und klang dabei verstörend ruhig, doch als ich sie ansah, waren da schon neue Tränen, die ihre roten Wangen runterrollten. Es war schmerzlich mit anzusehen. Zusammen mit ihrem verstörten Ausdruck, ergab es ein ebenso traumatisches Bild für jeden Zuschauer. Und ich wusste keine Worte zu sagen. „Was will er denn nur von uns? Was haben wir ihm getan, dass er so wütend auf uns ist? Ich verstehe das einfach nicht. Ich versteh nicht-" Und dann brach ihre Stimme ab, um in dicken Schluchzern zu ertrinken. Ich biss mir auf die Lippe. Es tat mir weh, körperlich, sie und auch Anne so zu sehen. So verzweifelt und ängstlich, so verständnislos wie jemand der ihnen nahe steht zu sowas im Stande war. Der seinen Liebsten wehtat, obwohl er gerade diese Menschen schützen sollte.

Ich setzte mich zu Julie auf die Lehne und strich ihn beruhigend über den Rücken, bis sie nicht mehr so laut schluchzte. Ich wusste, dass es lächerlich wenig zutun gab für mich, um sie in diesem Moment zu trösten, aber es fühlte sich richtig an ihr jetzt etwas Nähe zu geben.Auch, wenn es nur ein armseliger Ersatz war, denn wen sie jetzt wirklich gebraucht hätte, wäre ihre Familie.

„So", stieß Stefan hervor, als er ins Wohnzimmer kam und sich die kalten Hände rieb. „Mission beendet. Die Polizei ist verständigt und Henry ist im Geräteschuppen eingesperrt. Außerdem hab ich dem Mistkerl sogar den Ofen angemacht, immerhin soll die Polizei gleich keine Eisleiche vorfinden. Ich denke nämlich nicht, dass er in absehbarer Zeit wieder aufwacht. Und wenn doch... bin ich gerne dazu bereit das zu ändern." Ich wusste das er nur versuchte witzig zu sein und die Stimmung aufzulockern, aber der Augenblick war denkbar schlecht dafür. Annes war noch immer nicht erwacht und Julie saß noch immer  mit schreckweiten, tränenfeuchten Eulenaugen neben mir auf der Lehne, um sie zu beobachten. Sie würde nicht die kleinste Regung von Anne verpassen. Für ihr Alter hatte sie erstaunlich schnell aufgehört zu weinen, was es nach meiner Erfahrung jedoch nicht besser machte. Sie schluckte das Leid runter, schrie von innen, so laut, dass ich sie doch meinte zu hören. Und ich wusste wie schlecht das war, denn ich hatte das schon zu oft gemacht und jedes Mal das in Stück von mir verletzt, was nur langsam, einiges vielleicht gar nicht mehr verheilte.

Da merkte ich, wie Anne sich regte. Es war nur ein leichtes Zucken ihrer Muskeln, dann ein gequältes Seufzen. Ich streichelte ihr vorsichtig über das Haar, doch es reichte aus, damit sie zusammen krampfte und ihre Lider verwirrt öffnete. Orientierungslos murmelte sie unverständliche Dinge und bekam meine Hand zu fassen, die sie entschieden wegdrückte. „Lass mich...", konnte ich aus ihren Gebrabbel heraushören. Es klang nicht verschlafen, sondern verzweifelt, trotz dem sie noch nicht mal richtig bei Kräften war. Als ich meine Hand wieder hob, um ihr noch einmal beruhigend über den Kopf zu streicheln, zuckte sie zusammen. „Nein...", wimmerte sie abgewürgt und wollte sich von mir ducken, doch ich hielt sie fest. Vorsichtlich ruschte ich von der Lehne runter und hob Annes Kopf auf meinen Schoß. „Anne, es ist alles gut! Ich bin es. Du bist in Sicherheit. Ich habe dir doch gesagt, dass ich mich um Henry kümmere, sollte er hier auftauchen. Er kann dir jetzt nicht mehr wehtun.", sagte ich nun bemüht ruhig, obwohl mich ihre Reaktion verstörte. So voller Schmerz der daraus hervordrang, die Verzweiflung und Angst, die ihre Stimme zum Beben brachten. Ein erstickter Schluchzer bahnte sich seinen Weg, der Annes Körper schüttelte. Und ich hätte am liebsten geweint. Vorsichtig hob ich ihren Kopf an meine Halsbeuge und drückte sie an mich, als sie von immer mehr Schluchzern geschüttelt wurde. Es war kein Weinen, denn ich spürte keine Tränen, dennoch wollte ich das Zittern stillen, welches ihren Körper mit jedem trockenen Schluchzer schüttelte. Julie löste sich aus ihrer Starre und streichelte ihr sanft über den Arm. „Hab' keine Angst mehr. Er ist weg. Er kann nichts mehr tun.", flüsterte Julie beruhigend, in ihrer Stimme endlich die Hoffnung darauf, dass es diesmal wirklich wahr war. Vielleicht sagte sie das auch, um sich selbst davon zu überzeugen. Um sich den Mut zuzusprechen, den sie jetzt brauchte. Schniefend ließ Anne es über sich ergehen, sagte nichts, zu paralysiert und benommen um zu reagieren. „Es wird jetzt endlich gut. Endlich... Wir können nach Hause gehen! Wir können neu anfangen. Nur ich, du und Mama, und niemand der sich mehr zwischen uns stellt. Alles wird gut." Und ich fühlte mich wie der Teufel. Nicht nur, dass ich mich wie ein unbedeutender Außenstehender fühlte, nein, ich wusste, dass es kein Zuhause gab, zu dem die beiden zurückkehren konnten. Henry hatte es ihnen genommen, er hatte ihre Mutter umgebracht, er hatten ihren letzten Hafen zerstört, den sie anzusteuern wussten. Wieder trug ich die Last einer Wahrheit, die nur Leid und Trauer und Hilflosigkeit verbreiten würde. Eine Wahrheit, die sie so oder so herausfinden würden. Aber ob jetzt der richtige Moment war, es den beiden zu erzählen bezweifelte ich. Alles in mir sträubte sich es überhaupt erklären zu müssen. Die beiden hatten jetzt gerade genug zu verarbeiten, jedes meiner Worte würde nur zusätzliches Leid bringen.

Und zu allem Übel standen dann auch noch meine Eltern fassungslos und mit reichlich verwirrter Miene in der Tür. Steinerne Stille legte sich über den Raum, nur unterbrochen von Julies hoffendes Wispern. Beide Parteien, ich und Stefan auf der einen Seite und unsere Eltern auf der anderen sahen sich an. Die Luft begann vor Spannung zu flirren, wer nun als erster sprechen würde, wer die Fragen stellte, die offen im Raum standen. Nicht mal Stefan schien so spontan zu wissen, was er sagen sollte. „Was ist hier eigentlich los?", löste Mutter mit tonloser Stimme endlich dieses Erstarren aller Bewegung und Zeit auf.

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