Vier Stunden hatte Anne also Zeit sich eine gute Geschichte auszudenken, die sie bei Nachfragen erzählen konnte. Natürlich hatte sie auch darüber nachgedacht, einfach die Wahrheit zu erzählen, dass Henry ein gewalttätiger Alkoholiker war, dem heute die Gefühle völlig entgleist sind. Aber Anne fühlte sich nicht wohl dabei, jedem gleich ihre ganze Familiengeschichte auf die Nase zu binden. Dafür kannte sie Derrens Familie definitiv nicht gut genug und daher fühlte sie trotz allem, was heute passiert war den Wunsch, so zu tun als wäre ihre Familie vorbildlich und heile. Nein, der Wunsch war sogar stärker denn je diese ganze Sache hinter Lügen und einem freundlichen Lächeln zu verstecken. Sie gingen schließlich niemanden außerhalb der Familie etwas an. Und auch wenn es widersprüchlich war, wollte Anne nicht, dass Derrens Familie irgendwas tat oder sagte, um ihr nach bestem Gewissen zu helfen. Sie wollte keine Hilfe, sie wollte diese mitleidigen Blicke nicht, die sie als armes misshandeltes Mädchen eines gewalttätigen Stiefvaters abstempelten. Auch wenn sie wusste, dass sie das war. Also musste eine gute Geschichte her, eine die erklärte, warum sie mit Julie mitten in der Nacht unterwegs war, eine, die die ganzen Verletzungen erklären würde ohne zu viel Aufsehen zu erregen. Eine Geschichte, die Derrens Eltern nicht sofort veranlasste sie nach Hause zu schicken, oder die Polizei zu rufen.
Das Ausdenken der Geschichte war wohl das einzige was Anne außer Laufen machen konnte. Ihr war so kalt, dass sie ihre Füße und Arme nicht mehr spürte. Der Rest ihres Körpers tat abwechselnd weh und drohte dann vor Erschöpfung zusammen zu sinken. Ihr Kopf lief immer wieder in Kreisen, zermarterte sich an den Gedanken an Julie, ihre Mutter, die jetzt ganz allein mit Henry war und den Bedenken, ob Derrens Eltern sie überhaupt reinlassen würden. Vielleicht hätten sie lieber in ein Krankenhaus gehen sollen? Aber auch die hätten Fragen gestellt und vielleicht sogar die Polizei gerufen. Und die Polizei hätte sie zurück gebracht. Zurück zu Henry, weil sie beide minderjährig waren und damit nicht befugt nacht 21 Uhr noch auf der Straße zu sein.
Anne trug Julie den ganzen Weg lang. Vier Stunden, in der sie nicht wagte anzuhalten oder auch nur kurz locker zu lassen. Julie war irgendwann in einen unruhigen, zittrigen Halbschlaf verfallen, die nicht zur Annes Beruhigung beitrug. Wann immer Julie eine falsche Bewegung machte zuckte sie zusammen, wechselte von eine unbequemen Position in die nächste und schlummerte wieder weg. Sie hatte nicht nachgefragt wo Anne hinwollte. Allein bei diesem Grundvertrauen hatte Anne ein noch viel schwereres Herz bekommen. Julie verließ sich auf sie, vertraute ihr, dass sie den Weg kannte, wo immer er auch hinführte.
Und dann standen sie vor dem Haus. In einer beinahe totenstillen Straße, ohne Wind und Autos die in der Ferne vorbei fuhren. Die Häuser waren allesamt dunkel, hinter den Fenstern regte sich nichts mehr. Auch bei Derrens Haus war das der Fall. Nur die Straßenlaternen zwischen den Bäumen hielt die Dunkelheit davon ab alles zu verschlingen. Anne verlagerte Julies Gewicht vorsichtig und setzte sie dann etwas zu unvorsichtig ab, als sie wieder erwacht war. Ihre Arme pulsierten schmerzhaft in heißen Schüben und ließen sie nur langsam wieder aus ihrer Position holen, mit der sie Julie über vier Stunden hatten tragen müssen. Sie hingen schlaff und kraftlos an Annes Seiten herab und sie brauchte ein paar Momente, bis sie sich wieder aufrichten konnte. Nach komm schon, nicht so kurz vor dem Ziel! Ihre innere Motivation überraschte sie, die sie tatsächlich zwang zitternd vor Erschöpfung aufzustehen sich zu Julie umzuwenden, die sich verwundert umgeschaut hatte und ihre Hand zu ergreifen. Naja, eigentlich war es eher Julies Hand, die Annes hielt, da sie mit ihrer eigenen keine Kraft mehr aufbauen konnte, als sie sie Julie hinhielt. Es war ebenfalls Julie, die den Koffer ergriff und ihr ohne zu Murren aus dem Schnee hob in den er mit Anne eingesunken war. Anne nickte ihr aufmunternd zu, dann sammelte sie noch einmal Kraft, drückte das Gartentor auf und ging den kurzen Weg bis zur Haustür, wo ihr Herz vor Aufregung schneller zu schlagen begann.
Mit tauben Fingern drückte Anne die Türklingel so lange wie möglich durch und darauf gleich nochmal, ehe sie die Hand schwach sinken ließ. Julie drückte sich an Annes Seite und starrte auf das Namensschild über der Klingel, als könnte sie so jemanden der Bewohner beschwören. Doch hinter der Tür regte sich nichts. Anne schluckte trocken und wollte gerade noch einmal langsam die Hand zur Klingel heben, als Julie ihr schon zuvor kam. Sie drückte so lange wie Anne, ein kleines bisschen zu lange für normale Besucher, aber welcher normale Besucher kam schon um Mitternacht?
Es dauerte eine Weile, in der Anne glaubte gleich doch in der Kälte übernachten zu müssen, doch dann ging das Licht hinter der Tür an. Hätte Anne jetzt gekonnt hätte sie gejubelt, so erfreut war sie über Wärme spendendes Licht. Der junge Mann der ihr dann die Tür aufmachte wirkte misstrauisch und sein Blick war selten schlecht gelaunt. Trotzdem war Anne so froh Stefan zu sehen, dass sie den Baseball-Schläger über seiner Schulter und die Tatsache, dass er außer einer Hose nichts trug ignorierte. Anne war so, dass sie hätte weinen können vor Erleichterung, wären ihr die Tränen nicht für heute ausgegangen. Als er sie erkannte wechselte sein Blick schlagartig von griesgrämig zu überrascht und sein Gesicht entspannte sich. „Anne? Was um alles in der Welt machst du hier?", fragte Stefan und blickte dann an Anne vorbei zu Julie. Anne schluckte nochmal, diesmal vor Erleichterung. „Können wir reinkommen?", fragte sie und selbst ihren Ohren hörte sie sich dünn und zitterig an. Stefan schien etwas sagen zu wollen, schloss dann aber den Mund und nickte. Im Inneren des Hauses war es warm, als Anne mit Julie eintrat. Es war so unglaublich warm und tröstlich, das Anne verlockt war sich gleich hier auf den Biden zu legen und zu schlafen. Hinter ihr schloss sich die Tür und Stefan kam um sie herum während er seinen Blick über sie gleiten ließ. Seine Augen wandelten von überrascht zu entsetzt mit einer tiefen verwirrten Note. Anne zog die Nase hoch und machte sich daran die Jacke und nassen Schuhe auszuziehen. Julie tat es ihr nach. Sie wirkte erleichtert und noch viel müder als Anne, den Koffer ließ sie jedoch nicht los. „Stefan?", fragte eine weibliche Stimme, ehe eine ebenfalls sehr leicht bekleidete Frau die Treppe runter kam. „Alles in Ordnung, Ju. Leg dich wieder hin.", meinte Stefan noch, doch da war die Frau schon unten und kam zu ihm rüber. Sie war hübsch, dunkelblondes Haar fiel ihr unordentlich auf die Schultern und ein weißes Shirt, das ihr definitiv zu groß war - kaum zu übersehen das es Stefans war - konnte kaum ihre kurvige Figur verstecken. Anne rang sie einen steifen Gruß ab, den die Frau erwiderte und herzlich, aber verwirrt lächelte. Erst jetzt fiel Anne ein, dass sie die beiden wohl bei eindeutigen Dingen gestört hatte, aber sie wünschte es würde sie mehr interessieren. Die Frau war älter als Anne, vielleicht so alt wie Stefan, aber definitiv auch nicht älter. Anne vermochte nicht mehr über sie nachzudenken, ihr schwirrte so schon genug durch den Kopf. „Wollt ihr einen Tee?", fragte Stefan an Anne und Julie gewandt. Und Anne war ihm dankbar.
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Soldiers Scars #PlatinAward
General Fiction„Krieg... Krieg macht dich zu einem Menschen der du nicht sein willst. Er zerfrisst dich von innen nach außen, bis nichts mehr von deinem alten Ich übrig ist." Derren McConnell ist gerade mal 22, als er für zwei Jahre nach Vietnam in den Krieg gesch...