Ich war heute spät erwacht, trotz der Hartnäckigkeit einer Schwester die mit ihren kräftigen Händen an mir herumgerüttelt hatte, war ich erst zur ersten Routineuntersuchung des Tages wirklich wach geworden. Blutabnehmen, Blutdruck und Vitalwerte messen. Das übliche Prozedere was bei mir und Luke gleichzeitig gemacht wurde und deren Zahlen sie dann auf einem Klemmbrett vermerkten, ehe sie den betreffenden Zettel in eine Krankenakte schoben. Erstaunlicherweise benahm Luke sich, als wäre gestern nie etwas gewesen. Er war gut drauf, grüßte und spaßte mit den Krankenschwestern auf seine übliche lockere Art. Als hätte ich in der letzten Nacht nur einen schlechten Traum gehabt. Hatte ich mir das vielleicht wirklich nur eingebildet? Geträumt, Luke hätte mich derart angefahren, weil es eigentlich meine eigenen selbstzerstörerischen Gedanken waren? Ich war verwirrt, aber auch zu müde um wirklich darüber nachzudenken. Doch der Schock über das Geschehe steckte mir noch den ganzen Morgen spürbar in den Knochen.
Die Schwestern brachten heute Zeitungen von letzter Woche mit, damit wir ein bisschen beschäftigt waren. Einen ganzen Batzen voll Meldungen über Finanzen, Sport und alltägliche Ereignisse sowohl schlecht, als auch gut. Dazwischen befand sich Werbung für das neuste Spülmittel, hautstraffende Cremes und wie man seinen Mann zuhause verwöhnt, wenn er einen stressigen Arbeitstag hatte. Ich war amüsiert und las von allem etwas. Auch, weil es mich wenigstens ein paar Momente von allem ablenkte, was mir im Kopf umher ging und den üblichen düsteren Gedanken.
Ein oder zwei Stunden später klopfte es wieder an der Tür und Anne in Begleitung einer anderen, etwas älteren Schwester kam herein. Die andere namens Joanne, wie ich allmählich wusste, legte einen Stapel frischer Wäsche auf einem Diener ab. „Wäsche wechseln. Das heißt raus aus den Betten. Zack zack!", legte sie in einem burschikosen Ton los und stemmte die Hände in die Hüfte. Ihre große, mollige Gestalt füllte den Bereich vor der Tür aus und machte ein Entkommen unmöglich - wenn ich je dazu in Lage gewesen wäre. Dann klatschte sie energisch in die Hände und wandte ich zu Luke um. Sie zauberte ihm einen Rollstuhl, identisch zu meinem, hinter dem Rücken hervor und schon ihm diesen ans Bett. Luke grinste breit. „Für mich? Ach das wäre doch nicht nötig gewesen, Werteste.", hörte ich ihn sagen. Anne schaute zu mir. Ohne noch länger zu warten schob sie mir ebenfalls meinen Rollstuhl ans Bett und machte Anstalten mir zu helfen. Ich hievte mich beinahe selbstverständig in meinen Rollstuhl. Noch zitterten meine Arme und ich fühlte mich schlapp, aber das ich es soweit allein schaffte erfüllte mich mit Freude. Ein kleiner Erfolg, in der Suppe aus Misserfolgen, die mich verfolgten. Ich konnte ein triumphales Lächeln nicht verhindern und merkte, dass Anne mein Lächeln erwiderte. Sie war hübsch, wenn sie lächelte. Aber sie sah so noch jünger aus, als sowieso schon.
Joanna funkte dazwischen. „Na, da ist ja jemand besonders mutig heute. Was fällt Ihnen ein, allein aufzustehen? Wir sind schließlich dazu da um Ihnen zu helfen, oder wollen Sie Ihren Aufenthalt hier noch etwas verlängern? Das würde Ihnen mit Sicherheit genauso wenig gefallen wie uns.", meinte sie spöttisch und schenkte mir einen geringschätzigen Blick. Mein Lächeln erlosch wie eine gerade erst erwachte Glut, die man mit Wasser übergoss. Dann wandte sie sich zu Anne um. „Ich glaube Mr. McConnell braucht etwas Bewegung und frischte Luft. Wären Sie so freundlich ihn ein wenig im Innenhof rumzuschieben, bevor er sich noch den Hals bricht vor Übermut?" Anne nickte ergeben, auch ihr Lächeln war fort. Was hätte sie auch sonst tun sollen, als der älteren und erfahreneren Schwester folge zu leisten. Ich warf Joanna einen hitzigen Blick zu, den sie nichtmal bemerkte. „Sehr Wohl, Frau Oberschwester.", kam es von Anne und sie sah verlegen zu mir. Ich seufzte und lehnte mich zurück. Nicht, dass mir etwas Freiraum gefallen würde, aber allein wäre es mir lieber gewesen. Unter freiem Willen und nicht unter zweifelhafter Anordnung irgendeiner Oberschwester. Doch da ergriff Anne schon meinen Rollstuhl und fuhr mich aus dem Raum raus.
Wir fuhren aus dem Hauptgebäude raus in einen ausladenden Innenhof mit einem künstlich angelegten Teich, einer kleinen Brücke und einem schnurgeraden Weg entlang wiegender Eschen und Büschen. Der sachte Wind, der mir um die Nase wehte wirkte unglaublich belebend. Für einen kurzen Moment, aber auch nur für ein paar Sekunden ging es mir wirklich gut. Da war kein Krankenhaus und keine Probleme mehr, alles wirkte leicht und unbeschwert. Ich musste es Anne hoch anrechnen, dass sie mir diesen Moment ließ. Sie sagte nichts, sie schob mich einfach nur ganz langsam und gemächlich durch die Gärten. Ich konnte Insekten hören, das Rauschen der Blätter im Wind. Es war mit einer Fingerschnipsen zu einem anderen Ort geworden. Erst als wir auf einer netten kleinen Grünfläche mit Rosenhecken und einem kreisförmigen Blumenbeet angekommen waren hielten wir an. Anne kam herum, sodass ich sie sehen konnte und verschränkte die Arme hinter dem Rücken. Ihr Schwesternkittel leuchtete blütenweiß im Tageslicht, so hell, dass es mich beinahe blendete.
Es war still, nur die Geräusche der Natur, die mich innerlich entspannten. Ich beobachtete wie der Wind auf dem Wasser spielte und es zum Glitzern brachte. Ich musterte die ulkigen kleinen Gartenzwerge zwischen den Blumen wie sie mit Laternen, Schaufeln und Körben ausgestattet waren. Der Gärtner hier hatte sich wirklich Mühe gegeben, und das freute mich irgendwo tief in meiner Brust. „Freue Sie sich schon auf Ihre Entlassung?", fragte Anne da plötzlich in die Stille und zwang meinen Blick zu ihr. Sie sah mich mit diesem offenen, unschuldigen Blick an. Ich zuckte mit den Schultern. „Natürlich", zwang ich über meine Lippen und versuchte so sorglos wir Luke zu klingen. Doch es misslang mir. Annes Blick trübte sich ein wenig. „Ich habe gehört, wenn Sie weiter so gut mitmachen kann es sein, dass Sie in einer Woche entlassen werden.", erzählte sie und nestelte am Saum ihres Schwesternkittels. Ich legte die Stirn in Falten. In einer Woche? Frei? Ich sollte entlassen werden? Tausend Fragen stürmten meinen Kopf, doch meine Lippen konnten kein Wort formulieren. Alles was ich konnte war nicken. Anne sah mich an und seufzte leise. „Dann sind Sie mich endlich los.", versuchte sie die Stimmung zu heben und lächelte schüchtern. Der Scherz war jedoch deutlich misslungen. „Warum denken Sie ich würde Sie loswerden wollen?", fragte ich verwirrt und schaute sie offen an, wobei ein Windstoß ihre braunen Locken durchkämmte. Sie war anscheinend ebenso erstaunt wir ich, ehe sich ihre Wangen wieder rosa färbten und sie den Blick abwandte. „Naja... ich weiß, dass Sie mich nicht sonderlich mögen. Deshalb dachte ich, Sie wären froh darüber, wenn sie mich nicht mehr sehen müssen.", erklärte sie verlegen und ordnete ihre Haare wieder. Ich starrte sie an. Sie dachte ernsthaft ich mochte sie nicht? Wie war das überhaupt möglich? Und ich machte mir schon meine Gedanken, weil ich sie so offensichtlich ansah, wenn sie da war.
Mein Schweigen brachte sie nur noch mehr in Verlegenheit. Ihre Kopf färbte sich intensiver rot, als zuvor. „Also nicht, dass ich so egoistisch wäre, mir überhaupt anzumaßen Sie würden mich mögen oder nicht mögen. Ich... also... tut mir leid. Natürlich war das dumm von mir, anzunehmen dass... sie mich nicht mögen.", haspelte sie und hielt den Blick stur auf den Blumen neben ihr. Ich schüttelte den Kopf, ganz langsam und unterdrückte ein Lächeln. Sie war so unsicher, dass ich nicht anders konnte, als es niedlich zu finden. Anne schluckte, nahmt sichtbar ihren Mut zusammen und schaute auf. „Vergessen Sie einfach, dass ich überhaupt was gesagt habe. Ich wollte Sie nicht in Verlegenheit bringen.", sagte sie und nickte, als wäre das Gespräch damit beendet. Ich sah sie an und gestand mir dann doch das Lächeln ein. „Also die einzige, die dadurch in Verlegenheit gekommen ist, sind Sie.", lächelte ich, wodurch Annes Gesicht sich endgültig tief rot färbte. Sie strich sich das Haar hinters Ohr, versuchte etwas zu erwidern, doch ich war diesmal schneller. „Wieso interessiert es Sie überhaupt, was ich Ihnen gegenüber empfinde? Schließlich bin ich Ihr Patient und Sie machen nur Ihren Job.", harkte ich nach, wohl wissend, dass es Anne wahrscheinlich noch nervöser machen würde. Aber ich war gespannt wie dunkel ihr Gesicht noch werden konnte.
DU LIEST GERADE
Soldiers Scars #PlatinAward
General Fiction„Krieg... Krieg macht dich zu einem Menschen der du nicht sein willst. Er zerfrisst dich von innen nach außen, bis nichts mehr von deinem alten Ich übrig ist." Derren McConnell ist gerade mal 22, als er für zwei Jahre nach Vietnam in den Krieg gesch...