~ Lips that felt just like the inside of a rose. ~
SARAH'S POV
„Vergiss es Mum! Ich werde nicht -“, war das erste, das ich an diesem Morgen hörte. Harrys Stimme klang aufgebracht, ich versuchte zu identifizieren, woher sie kam, doch ich war noch halb im Land der Träume, sodass er sowohl direkt neben mir als auch im unteren Stockwerk sein könnte. Auch Anne, die ihrem Sohn ins Wort fiel, klang nicht gerade beruhigt. „Überlege es dir doch wenigstens ein Mal!“
Mich interessierte es brennend, worum es ging, doch ich beschloss, erst einmal ruhig zu bleiben. Vielleicht sollte ich das alles ja auch gar nicht mitkriegen. „Da gibt es nichts zu überlegen!“, stieß Harry frustriert aus. Ich konnte mir nur zu gut vorstellen, wie er genervt die Luft zwischen seinen Zähnen ausstieß und sich durch die Locken fuhr. Noch immer schlaftrunken drehte ich mich auf die andere Seite, auf der ich die Tür vermutete, und hörte wie Anne mit nun leiserer Stimme fortfuhr. „Und wenn du Sarah mit nimmst?“ Bei der Erwähnung meines Namens öffnete ich schließlich meine Augen, kniff sie jedoch sofort wieder zusammen, als das helle Licht mir entgegen schlug. Sobald ich mich an die Helligkeit gewöhnt hatte, schlug ich meine Augen erneut auf und erblickte Harry mit dem Rücken zu mir halb in der Tür stehen, doch sein Gesicht hatte er mir zugewandt. Er trug eine Jogginghose und ein T-Shirt, irgendetwas hielt er in den Händen, doch ich konnte es von meinem Platz im Bett aus nicht genau erkennen. Er schien sich dazu entschlossen zu haben, seiner Mutter darauf keine Antwort zu geben, sondern mir stattdessen ein liebevolles Lächeln zu schenken. „Du bist schon wach?“ Ich nickte und fuhr mir einmal über die Augen, bevor ich antwortete: „Ich bin gerade wach geworden.“ Ich räusperte mich kurz, da meine Stimme so kratzig war. Harry drehte sich währenddessen zu mir um, ein großes Tablett in den Händen, das er nun nur noch auf einer Hand balancierte, während er sich mit der anderen verlegen durch die Haare fuhr. „Ich habe dir Frühstück gemacht.“ Mit einem leichten Lächeln, das ich sofort erwiderte, ließ er sich neben mir auf dem Bett nieder, das Tablett mit Brötchen, verschieden Aufschnitten, Obst und zwei dampfenden Tassen neben uns. „Wow“, entwich es mir, als ich sah, wie viel Mühe er sich gegeben hatte. „Danke.“ Lächelnd lehnte ich mich zu ihm und küsste ihn auf die Wange.
„Schmeckt's?“, fragte er, sobald wir beide angefangen hatten. Ich schluckte den ersten Bissen herunter und nickte lächelnd. „Daran könnte ich mich gewöhnen“, grinste ich, mit einem Blick auf das Frühstück. Harrys Lachen schallte laut durch den Raum und ich verlor mich eine Sekunde in dem Klang. Wie sehr ich es vermisst hatte, ihn so unbeschwert Lachen zu hören. Es fühlte sich alles noch an wie ein Traum, ihn nach so langem Warten wieder bei mir zu haben. Die Angst, dass alles wirklich nur ein Traum war, verdrängte ich geflissentlich. Ich sollte das hier genießen und es mir nicht selber kaputt machen. Und genau das tat ich, ich genoss die Zeit mit ihm. Es war Sonntagmorgen und hier mit ihm zusammen in sein Bett gekuschelt, eine Tasse heiße Schokolade in der einen und ein Nutella Brötchen in der anderen Hand, konnte ich der Welt außen entfliehen, bevor sie uns früher oder später wieder einholen würde. In seinen Armen fiel es mir leicht, alles andere auszublenden. Es reichte mir, bei ihm zu sein, sein Lachen zu hören, ihn Lächeln zu sehen und das Glitzern in seinen Augen zu bewundern, wenn er von etwas sprach, dass ihm etwas bedeutete oder faszinierte. Genau wie er jetzt von seinem Traum, den er letzte Nacht gehabt hatte, sprach.
„Du hättest das sehen sollen. Es war wunderschön dort, die Wellen haben immer wieder gegen die großen Felsen geschlagen, das Rauschen hat sich so echt angehört. Ich habe wirklich gedacht, ich würde im Sand laufen. Wir sind Hand in Hand am Anfang des Wassers gelaufen und als die Sonne untergegangen ist, sind wir stehen geblieben.“ Ein ruhiges Lächeln lag auf seinen rosanen Lippen, eine leichte Röte zierte seine Wangen, als er fortfuhr. „Du hast gemeint, dass die Aussicht so wunderschön wäre. Ich weiß noch, wie ich dich angeschaut habe, wie du meine Aussicht warst, und ich dir zugestimmt habe, ohne dass du je erfahren hast, dass ich dich gemeint habe. Bevor ich es dir sagen konnte, bin ich aufgewacht.“ Ich meinte so etwas wie Enttäuschung in seiner Stimme hören zu können und musste augenblicklich lächeln. Es war einfach zu süß, dass er sich so in seinen Traum hineinsteigerte. Er war schon immer der Meinung gewesen, jeder Traum würde etwas bedeuten. Wir waren erst sieben gewesen, als er mich das erste Mal davon überzeugen wollte. Als ich ihm daraufhin jedoch von meinem verrücktesten Traum erzählt hatte – Affen in Cheerleader Uniformen, die einen Bus eingenommen hatten – war er sich seiner Theorie wenigstens für kurze Zeit nicht mehr ganz so sicher gewesen. Bei der Erinnerung daran verwandelte sich mein Grinsen in ein leises Lachen, was Harry verwirrt seine Stirn runzeln ließ. Das Tablett hatten wir bereits auf den Boden gestellt und meine Tasse war während seiner Erzählung gefolgt. Er kam mir immer näher, bis er mich mit sich nach hinten riss und über mir schwebte. Er stützte seine Ellenbogen neben meinem Kopf ab, um sein Gewicht darauf zu verlagern und zog skeptisch eine Augenbraue in die Höhe. „Lachst du mich etwa aus?“, ein warnender Unterton war in seiner Stimme zu hören. Sein Versuch, ernst zu klingen, ließ mich nur noch mehr lachen, was wohl nicht die von ihm gewünschte Reaktion war. Ohne eine Antwort auf seine Frage abzuwarten, lagen seine Hände schon an meinen Hüften. Erschrocken japste ich nach Luft, als er begann, mich zu kitzeln. Mein Lachen verwandelte sich in ein leises Aufschreien, was sofort von seinen Lippen gedämpft wurde. Geschmeidig bewegten sie sich auf meinen, während seine Hände von meinen Hüften fuhren und sich mit meinen Fingern verschränkten. Langsam fuhr er mit seinen Armen nach oben, bis sie über meinem Kopf waren. Seine Lippen lösten sich nicht ein Mal von meinen, während ich seinen Kuss erwiderte. Es war der erste längere Kuss, den wir seit gestern Abend teilten. Zu sagen, ein Feuerwerk an Gefühlen würde in mir ausbrechen, wäre eine reine Untertreibung. Meine Gefühle gingen schier mit mir durch und ich schaltete alles aus, außer das Gefühl von seinen Lippen, die sich so zärtlich auf die meinen schmiegten. Atemlos lösten wir uns nach einer Weile wieder von einander, seine Lippen gerötet und leicht angeschwollen. Lächelnd schaute er mir in die Augen, nur wenige Millimeter trennten unsere Gesichter von einander. Schwer atmend erwiderte ich seinen Blick, versuchte meinen Puls wieder zu verlangsamen. „Ich liebe dich“, flüsterte ich. Es fühlte sich unglaublich an, ihm diese Worte wieder sagen zu können. Ich wollte, dass er wusste, was ich für ihn empfand. Dass er sich dessen immer sicher sein könnte. Der Griff um meine Hände verstärkte sich leicht, als er sich wieder herunter beugte und einen kleinen Kuss auf meine Stirn platzierte. „Ich dich auch“, sagte er, bevor er unsere Lippen wieder vereinigte. „So sehr“, fügte er leise hinzu, sobald wir uns erneut gelöst hatten. Lächelnd rollte er sich von mir runter und zog mich zu sich. Ich platzierte meinen Kopf auf seiner Brust, ließ den letzten Tag bis heute Morgen Revue passieren. Als ich jedoch an meine Eltern dachte, schreckte ich auf. „Wie viel Uhr haben wir?“, fragte ich an Harry gerichtet. Dieser streckte sich nach seinem Handy auf dem Nachttisch, darauf bedacht, mich nicht aus seinem Griff zu entlassen. „Gleich halb elf.“
Ich seufzte leise auf und vergrub mein Gesicht in seiner Brust. Ich wollte nicht nach Hause, wollte nicht, dass die Außenwelt uns wieder einholte. „Ich glaube, ich sollte langsam zurück“, murmelte ich trotzdem und setzte mich auf. Als Harry meinen gequälten Gesichtsausdruck sah, schenkte er mir seine volle Aufmerksamkeit. „Alles in Ordnung?“, fragte er sofort nach. „Hast du Stress zu Hause?“, fügte er mit sanfterer Stimme hinzu. Lächelnd über seine Fürsorge schüttelte ich meinen Kopf. „Nicht direkt. Meine Mum wird wahrscheinlich sauer sein, weil ich alleine mit dem Auto gefahren bin, obwohl sie es verboten hat. Aber ich glaube, ihre Wut wird sich auf Jack und mich verteilen, also wird es schon nicht so schlimm werden.“
Er runzelte verwirrt die Stirn, da er mir nicht genau folgen konnte, was Jack damit zu tun hatte. Wahrscheinlich war ihm nicht aufgefallen, dass das Auto meines Bruders nun bei ihnen in der Ausfahrt stand und nicht das meiner Mutter. Erst jetzt fiel mir auf, dass mein Bruder ziemlich sicher auch sauer sein würde, da er sein Auto gestern Abend nicht mehr zurück bekommen hatte. Da freut man sich ja noch mehr, nach Hause zu kommen, wenn zwei wütende Menschen auf einen warten. Nun konnte ich nur auf die Unterstützung meines Dads hoffen.
Harry hatte seinen Blick noch immer nicht von mir abgewandt und war nach wie vor überzeugt, dass etwas nicht stimmte. „Was ist es dann?“
Ich seufzte erneut, zuckte leicht mit den Schultern. „Nichts, nur... Ich will nicht weg“, gab ich leise zu. „Ich konnte hier alles so gut verdrängen und einfach die Zeit mit dir genießen, alles andere außen vor lassen. Ich will nicht wieder zurück in den normalen Alltag.“
Lächelnd schüttelte er leicht seinen Kopf und legte seine Arme um mich. „Was ist denn so schlimm an dem normalen Alltag?“, fragte er mit gedämpfter Stimme. „Außerdem bin ich ja jetzt wieder hier, zusammen können wir den normalen Alltag genau so schön machen, wie die Zeit hier.“
Ich nickte, obwohl ich mir nicht sicher war, ob er es sah. „Du hast ja Recht“, wisperte ich, bevor ich mir löste. „Jetzt komm, ich will mich vorher noch von deiner Mum verabschieden.“
Sobald ich Harrys Oberteil durch meine Kleidung von gestern getauscht hatte, machten wir uns auf den Weg zu seiner Mum, die wir schließlich in der Küche fanden. Sie stand mit dem Rücken zu uns zum Herd gedreht und bereitete vermutlich schon das Mittagessen vor. Schon seit ich sie kannte, war sie die meiste Zeit in der Küche zu Gange. Vielleicht konnte sie deswegen so gut Kochen. Übung machte eben den Meister.
„Anne?“, fragte ich, da sie uns nicht hatte kommen hören. Sobald sie sich umdrehte, blieb ihr Blick an Harrys und meinen miteinander verschränkten Händen hängen, was ihr Lächeln vertiefte.
Bevor ich mich verabschieden konnte, fing sie schon an zu reden. „Guten Morgen“, zwitscherte sie. „Ich wollte sowieso noch mit dir reden, habt du kurz Zeit, Sarah?“
„Eigentlich -“, begann ich leise, doch sie war schon aus der Tür heraus ins Wohnzimmer verschwunden. Ich wechselte einen fragenden Blick mit Harry, doch dieser zuckte nur mit den Schultern. Nervös folgte ich ihr dann aus der offenen Küche raus. Worüber sie wohl reden wollte? Doch nicht über unsere Beziehung? Sonst hatte es sie doch auch nicht gestört. Ich schaute zu Harry zurück, der genau so ratlos am Überlegen war. Als er meinen Blick bemerkte, schenkte er mir einen entschuldigenden Blick und ließ sich dann am Tisch nieder.
Unsicher setzte ich mich neben Anne auf die Couch, die wie immer das liebevolle Lächeln auf den Lippen hatte. „Es tut mir Leid, dass ich dich so überfalle, aber das ist mir wirklich wichtig.“ Ich nickte als Zeichen, dass sie weiter reden sollte. „Ich weiß nicht, ob Harry es dir erzählt hat, aber sein Vater heiratet bald und es wäre ihm wirklich wichtig, wenn sein einziger Sohn dabei wäre. Dass Gemma nicht da sein kann, macht es für ihn noch wichtiger. Aber wenn ich Harry darauf anspreche, blockt er total ab. Sein Vater hat dich ebenfalls eingeladen und ich dachte mir, vielleicht kannst du noch einmal mit ihm reden?“
Überrascht blickte ich sie an. Sein Vater hatte mich von sich aus ebenfalls mit eingeladen? „Sicher, ich rede mit ihm“, versicherte ich ihr dann. „Aber ich kann nichts versprechen, Harry kann ziemlich stur sein.“
Anne nickte leicht lächelnd, doch wir beide fuhren erschrocken herum, als ein lautes „Hey!“ aus der Küche erklang.
„Harry!“, mahnte seine Mutter kopfschüttelnd und auch ich schaute vorwurfsvoll zu ihm. „Hast du uns gerade belauscht?“, fragte ich.
„Hab ich nicht“, beteuerte er und stand auf. „Aber wenn ihr so laut redet, kann ich nichts dafür“, erklärte er grinsend. Er kam ebenfalls ins Wohnzimmer und ließ sich neben mir auf die Couch fallen. Sein Arm fand Platz um meine Schulter, bevor er zu sprechen begann. „Nach gestern glaube ich nicht, dass es Des so wichtig ist, dass ich dabei bin.“ Seine Stimme klang hart und so sehr er auch versuchte, es zu verstecken, hörte man noch immer heraus, wie sehr ihn die Worte seines Vaters verletzt hatten. Anne schloss kurz die Augen und atmete tief durch. Plötzlich sah sie total erschöpft aus, was auch Harry zu bemerken schien, da sein Körper sich hinter mir versteifte. „Dein Vater hat das nicht so gemeint. Als du weg warst, hatte er sofort ein schlechtes Gewissen und hat dich mit mir überall gesucht. Du solltest noch einmal mit ihm reden.“
Ich nickte bekräftigend, schaute abwartend zu Harry, der jedoch nur betreten schwieg. Sein Blick lag auf seinen Füßen, einige Sekunden war es still. „Wieso lässt dich das so kalt?“, fragte er plötzlich und schaute seiner Mutter direkt in die Augen. „Hast du gar keine Gefühle mehr für Dad?“ Mir viel sofort auf, dass er seinen Vater nicht mehr beim Vornahmen nannte und wagte, das als ein gutes Zeichen zu deuten. Anne lächelte leicht, legte ihre Hand auf die Harrys, die auf der Lehne der Couch lag. „Ich freue mich für deinen Vater. Nur weil das zwischen uns nicht geklappt hat, heißt es nicht, dass er für immer alleine bleiben muss. Er scheint Beth wirklich zu lieben und das freut mich.“ Skeptisch blickte er seine Mutter an, bevor er sich seufzend zu mir wandte. „Würdest du denn mit kommen?“
Ich zuckte leicht mit den Schultern. „Wenn du das willst, gerne.“
Er nickte kurz, schien mit sich selbst zu ringen. „Okay, ich überlege es mir. Aber ich verspreche nichts.“ Abwechselnd blickte er erst zu seiner Mutter, dann zu mir. Wir beide nickten lächelnd.
Es herrschte kurz Stille, bis ich wieder das Wort ergriff. „Ich sollte gehen. Danke, dass ich bleiben durfte.“ Anne winkte nur lachend ab. „Das ist doch selbstverständlich“, beteuerte sie und zog mich in eine kurze Umarmung, sobald wir aufgestanden sind. „Ich bin so froh, dass du wieder an seiner Seite bist“, flüsterte sie so leise, dass nur ich es hören konnte. Ich drückte sie etwas fester und murmelte ein kurzes „Ich auch“ zurück.
Nachdem wir uns gelöst hatten, legte Harry seine Hand an das Ende meines Rückens. „Ich bring dich noch raus.“
Ich warf noch ein letztes „Tschüss“ über meine Schulter, bevor ich im Gang meine Schuhe anzog. Als ich fertig war, stellte ich mich vor Harry und zog ihn in eine Umarmung. „Ich finde es toll, dass du dir wenigstens überlegst, auf die Hochzeit zu gehen. Ich weiß, wie schwer das für dich ist.“
Ich spürte seinen heißen Atem auf meiner Haut, als er einmal tief durchatmete. Er nickte nur und drückte mich noch fester an sich, bevor unsere Lippen in einem Kuss verschmolzen.
„Pass auf dich auf“, murmelte er, als wir uns schließlich lösten.
„Es ist heller Tag“, wies ich ihn lachend darauf hin, worauf er nur mit den Schultern zuckte. Grinsend küsste ich ihn noch einmal kurz, bevor ich in das Auto stieg und nach Hause fuhr.
~
„Ich bin wieder da“, rief ich unsicher und hoffte insgeheim, dass keiner da war. Mir war klar, dass ich früher oder später auf meine Mum treffen müsste, doch später war mir eindeutig lieber.
„Ins Wohnzimmer, sofort.“
Oh oh. Wenn die Stimme meiner Mutter diesen Klang annahm, höher und gepresster als sonst, hieß das nichts gutes. Ich konnte mir wohl schon einmal mein eigenes Grab schaufeln.
„Junges Fräulein“, begann sie sofort, als ich den Raum betrat. Wie angewurzelt blieb ich stehen, traute mich nicht einmal, neben ihr auf dem Sofa Platz zu nehmen oder den Blick zu heben. „Was fällt dir ein, einfach das Auto deines Bruders zu nehmen, nachdem ich dir verboten hatte, alleine zu fahren?“
„Ich habe nicht einfach – er hat mir die Schlüssel gegeben“, startete ich einen kläglichen Erklärungsversuch, der jedoch scheiterte.
„Das ist nicht der Punkt. Weißt du, was dir hätte passieren können? Denkst du, ich verbiete dir das nur, weil ich dich ärgern will?“
Zähne knirschend schüttelte ich den Kopf, obwohl ich mir nicht wirklich sicher war, ob das nicht der einzige Grund war, warum sie es mir verbot. Immerhin hatte ich den Führerschein bestanden, ich verstand nicht, wieso ich ein ganzes Jahr lang nur mit Begleitung fahren durfte.
„Es tut mir Leid“, murmelte ich. „Wird nicht wieder vorkommen, versprochen.“
Meine Mum seufzte – abgrundtief – bevor sie ihr Gesicht kurz hinter ihren Händen verbarg. „Ich mache mir doch nur sorgen um dich“, hörte ich sie leise murmeln. Ich wusste nicht, ob ich etwas erwidern sollte, jedenfalls hatte sich mein schlechtes Gewissen um einiges gesteigert, weswegen ich meinen Blick wieder senkte.
„Jetzt erkläre mir wenigstens mal, was es so wichtiges gab“, forderte sie schließlich. Ich holte tief Luft, unsicher, was ich alles erzählen sollte, als es schon förmlich aus mir heraus brach.
„Harry ist abgehauen, weil er sich mit seinem Vater gestritten hat. Er heiratet neu und Harry wollte immer, dass seine Eltern wieder zusammen kommen. Anne war total aufgelöst, weil sie ihn nicht finden konnten und ich hatte so Angst, dass er sich etwas antun würde. Er hatte mich mehrere Male angerufen, aber ich habe ihn weg gedrückt, weil wir Streit hatten – mehr oder weniger – aber als Anne dann angerufen hatte, habe ich mir totale Sorgen gemacht. Ich könnte mir doch nie verzeihen, nicht da gewesen zu sein, als er mich brauchte. Und ich wusste noch einen Ort, wo er sein könnte. Mit dem Bus wäre das doch viel zu lange gegangen! Ich musste ihn finden, verstehst du? Und ich wusste mir nicht anders zu helfen.“ Am Ende überschlug sich meine Stimme fast, weswegen ich kurz inne hielt, bevor ich ein leises „Es tut mir Leid, wirklich“ hinzufügte.
Einige Sekunden starrte mich meine Mutter nur verwirrt an und ich erwiderte ihren Blick entschuldigend, bis sie verarbeitet hatte, was ich in meinem Redefluss alles von mir gegeben hatte.
„Ist denn jetzt alles wieder gut?“ Sie bedeutete mir, mich neben ihr auf das Sofa zu setzen, was ich noch immer unsicher tat. Ich nickte als Antwort auf ihre Frage hin.
„Auch zwischen dir und Harry? Du hattest von Streit gesprochen.“ Besorgt legte sie ihren Kopf schief und ich blickte sie einige Sekunden nur verwundert an. Wie konnte sie so schnell von wütend zu verständnisvoll wechseln?
„Nein, es ist alles gut.“ Ich lächelte bei dem Gedanken an die letzten Stunden. Obwohl viele Tränen geflossen waren, würde ich nichts ändern. Wir waren auf dem besten Weg, wieder die alten zu werden und das war alles, das für mich im Moment zählte.
Interessiert setzte sie sich auf. „Willst du mir da vielleicht noch etwas sagen?“
Nervös rutschte ich auf dem Sofa hin und her. War das wirklich so offensichtlich? Ich strich mir eine Strähne meiner Haare hinters Ohr, bevor ich antwortete. „Vielleicht?“ Es klang mehr nach einer Frage, als beabsichtigt, was meine Mum zum Grinsen brachte. Warum musste sie nur so neugierig sein? „Wirsindwiederzusammen“, presste ich so schnell hervor, dass es sich schon wie ein einziges Wort anhörte. Ich war mir sicher, dass meine Mum es verstanden hatte, doch sie hob nur eine Augenbraue. „Wie bitte?“
Ich seufzte, während ich meine Augen verdrehte. „Wir sind wieder zusammen“, sagte ich betont langsam. Ein liebevolles Lächeln schlich sich auf ihre Lippen und sie zog mich unerwartet in eine Umarmung. „Ich freue mich für euch. Es scheint wieder alles gut zu werden, nicht wahr?“
Ich löste mich von ihr, nickte unsicher. „Hoffentlich“, sagte ich leise, bevor ich aufstand. „Ich geh dann mal in mein Zimmer.“ Sie nickte nur und ich verschwand aus der Tür. Auf den Weg in mein Zimmer schnappte ich mir das Telefon, um Jade anzurufen. Schon viel zu lange hatte ich mich nicht mehr bei ihr gemeldet. Ich fühlte mich schlecht, dass ich erst jetzt, wo wieder alles gut war, mich nach ihr erkundigte. Ich musste mich unbedingt entschuldigen, sie war meine beste Freundin und ich wollte sie auf keinen Fall verlieren.
Ich machte es mir in meinem Bett bequem und suchte im Adressbuch nach ihrer Nummer. Nach längerem Klingeln ging sie endlich dran. „Hallo?“, fragte sie verschlafen in den Hörer. Überrascht warf ich einen Blick auf die Uhr in meinem Zimmer.
„Habe ich dich geweckt?“, fragte ich lachend.
Jade gähnte nur herzhaft als Antwort. „Wie spät ist es?“
„Kurz nach elf“, antwortete ich. „Was ist los? Du bist sonst auch keine Langschläferin.“
Im Hintergrund konnte ich Rascheln hören und vermutete, dass sie sich gerade aufsetzte. „Ich war gestern Nacht noch weg“, erklärte sie. Neugierig setzte ich mich automatisch gerader hin.
„Mit wem?“, fragte ich sofort nach. Es dauerte kurz, bis sie ein leises „Louis“ in den Hörer nuschelte. Überrascht quietschte ich auf. „Los, du musst mir alles erzählen!“ Ich lächelte leicht vor mich hin, es tat gut, dass wir normal mit einander redeten und Jade anscheinend nicht sauer war. Entschuldigen musste ich mich trotzdem. Ihre Stimme klang plötzlich viel wacher, als sie begann, mir von gestern Abend zu berichten. Ich konnte ihr Lächeln förmlich heraus hören und freute mich, dass die zwei sich langsam wieder näher kamen. Immer wieder rutschten mir leise 'Aww's und vereinzelte „Wie süß!“ raus, was sie immer wieder nervös kichern ließ.
„Ich wusste gar nicht, dass Louis so romantisch sein kann“, lächelte ich, als sie ihre Erzählung beendet hatte.
„Ich auch nicht“, gab sie lachend zu. „Aber es war einfach wunderschön.“
„Das freut mich für dich. Denkst du, er fragt dich, ob du mit ihm zum Ball gehst?“ Das erste Mal seit Wochen dachte ich wieder an den Summertime-Ball, der jedes Jahr stattfand. Noch knappe drei Wochen und danach würde noch die Hochzeit von Harrys Vater anstehen, wenn wir denn hingingen.
„Ich weiß es nicht“, seufzte Jade. „Was, wenn nicht?“
Energisch schüttelte ich meinen Kopf, auch wenn sie mich nicht sehen konnte. „Schwachsinn“, beteuerte ich. „Er wäre dumm, wenn er dich nicht fragen würde. Du kannst ihn natürlich auch fragen, aber -“
„Vergiss es“, fiel sie mir so gleich ins Wort, woraufhin ich leise lachte.
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The day you left me
FanfictionWas machst du, wenn dein bester Freund sich von dir distanziert? Wenn er plötzlich eine Freundin hat und komplett den Kontakt abbricht? Was machst du, wenn dein bester Freund zu deinem Feind wird? Und was macht er, wenn du in Gefahr bist? Für wen wi...