Kapitel 58 ~ Cause you make me strong.

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Leises Vogelgezwitscher drang an meine Ohren und ich genoss die Ruhe, die mich zum ersten Mal seit langem nicht umgab, da ich in einem tristen Krankenzimmer lag. Doch diese angenehme Stille wurde schon nach wenigen Sekunden jäh von einer erschrockenen Stimme unterbrochen.

Harry?“

Ich öffnete meine Augen wieder, schaute mich in dem kleinen Park um. Einige Meter von meiner Bank entfernt begegnete ich dem besorgten Blick von Louis. Er rannte die letzten Meter über die kleine Grünfläche schon förmlich und ließ sich, ohne mich aus den Augen zu lassen, neben mir nieder. „Was ist passiert?“

Ich blickte zu meinem besten Freund, suchte verzweifelt nach einer Ausrede. „Nichts“, sagte ich lahm.

„Nichts? Willst du mich verarschen, Harry? Ich finde dich weinend auf einer Parkbank, wenn du dein Zimmer eigentlich nicht einmal verlassen darfst und du willst mir weiß machen, es sei nichts passiert?“ Ungläubig schüttelte er den Kopf, wartete auf eine Erklärung. „Was ist passiert?“, fragte er noch einmal, als ich nicht antwortete.

„Was passiert ist?“ Ich lachte heiser auf. „Meine Erinnerungen sind zum Teil weg. Gefühle, die ich vorher hatte, sind einfach verschwunden. Meine Eltern sind getrennt. Meine Schwester ist irgendwo in einem anderen Land. Ich darf nicht aus diesem beschissenen Krankenhaus raus. Ich habe meine beste Freundin verloren und weil das nicht reicht, verletze ich sie mit meinem Verhalten auch noch die ganze Zeit und ich kann nichts dagegen machen, weil – ich weiß nicht, ob ich es schon erwähnt habe – meine Erinnerungen einfach weg sind!“ Zum Schluss hin wurde meine Stimme immer lauter und verzweifelter, mein Atem verschnellerte sich. „Ich weiß einfach nicht, was ich machen soll“, gab ich leise zu, das Gesicht hinter meinen Händen versteckt.

„Harry“, sagte er sanft, seine Hand beruhigend auf meine Schulter gelegt. „Das ist nicht deine Schuld, das weißt du doch, oder?“

Ich antwortete nicht, ignorierte seine Anwesenheit.

„Deine Erinnerungen werden wieder kommen. Du hast den Arzt doch gehört, es braucht nur ein bisschen Zeit.“

Ich blieb still, wollte nicht immer das selbe hören. Jeder sagte mir, alles würde wieder normal werden, aber wann? Wie lange musste ich noch Menschen, die mit etwas bedeuteten, verletzen, weil ich mich an wichtige Dinge nicht mehr erinnern konnte?

„Sie weiß, dass du sie nicht mit Absicht verletzt hast“, sprach er ernst. Ich schüttelte seine Hand ab, setzte mich aufrecht hin und blickte ihm zum ersten Mal heute direkt in die Augen. „Das ändert nichts daran, dass ich es getan habe“, zischte ich. „Ich habe ihr versprochen, dass wir für immer zusammen sein werden. Ich habe ihr gesagt, dass ich sie liebe. Und jetzt? Jetzt muss sie damit klar kommen, dass ich alles vergessen habe. Dass ich meine Gefühle vergessen habe. Du hast sie nicht gesehen!“ Bei der Erinnerung an unser Gespräch zog sich mein Herz schmerzhaft zusammen, verbissen sprach ich trotzdem weiter. „Du hast nicht gesehen, wie ihr Herz gebrochen ist. Wie ihre Stimme bebte, ihre Augen vor Tränen glitzerten. Du weißt nicht, wie es weh getan hat, sie so zu sehen!“ Mit einem Ruck stand ich auf, weswegen mir kurz schwarz vor Augen wurde. Ich ignorierte den Schwindel, der mich überkam, ignorierte, dass ich leicht schwankte und fuhr ungerührt fort. „Ich brauche sie, verstehst du? Und jetzt ist sie weg. Sie hat sich nicht einmal gemeldet. Und es ist meine Schuld. Weil ich nicht weiß, ob ich sie als beste Freundin oder als Freundin brauche. Und solange ich das nicht weiß, verletze ich nicht nur sie, sondern auch mich.“

Der Boden unter mir schien zu schwanken, alles um mich herum begann, sich zu drehen. Ich kniff die Augen zusammen, versuchte einen Punkt zu fokussieren, doch es gelang mir nicht. Wie um das komische Gefühl abzuschütteln, bewegte ich meinen Kopf leicht von links nach rechts. Doch es brachte nichts, im Gegenteil, mir wurde nur noch schummriger. „Ich muss das wieder gerade biegen. Aber ich schaffe das nicht alleine“, seufzte ich. Ich fasste an meine Stirn, begann in kleinen Kreisen meine Schläfe zu massieren, in der Hoffnung, es würde etwas bringen. Wenige Sekunden später spürte ich Louis Hände an meiner Schulter. Er stand direkt vor mir, beäugte mich besorgt. Immer wieder sagte er meinen Namen, rüttelte leicht an mir. „Sag doch etwas!“, schrie er schon fast. „Mir ist schwindelig“, murmelte ich vor mich hin. Ich schloss meine zittrigen Lider, wollte nicht sehen, wie sich alles drehte. Louis' Rütteln wurde stärker, ebenso sein Griff an meiner Schulter. „Harry, mach die Augen auf. Du darfst sie nicht schließen. Hey, du musst wach bleiben, hörst du mich?“ Angestrengt öffnete ich meine Augen wieder einen kleinen Spalt, stolperte etwas nach hinten. Ich hörte Louis nach Hilfe schreien, wollte mir die Ohren zu heben, um den lauten Geräuschen zu entkommen. Meine Knie waren weich, konnten mich nicht mehr halten. Meine Beine gaben nach, zwei Arme fingen mich rechtzeitig auf, bevor ich gänzlich auf dem Boden aufkam. „Bleib wach, Harry. Du musst die Augen offen lassen“, wiederholte sich Louis immer wieder, gefolgt von: „Es kommt gleich Hilfe.“

The day you left meWo Geschichten leben. Entdecke jetzt