Kapitel 18

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Kapitel 18 

Raphael Ragucci 

Vertieft bin ich ins Scheiben meiner Texte, sitze auf dem Bett eines Wiener Hotelzimmers, meinen Laptop auf dem Schoß, zwischendurch fällt mein Blick aus dem Fenster auf die Dächer meiner Stadt. Weit hinten die Hochhäuser, das Riesenrad des Praters unter mir die Donau und mein Herz schlägt höher. Ich liebe Berlin aber immer, wenn ich zurück komme schlägt mein Herz wieder für Wien. So viele Erinnerungen, so viel Zeit, so viele Dinge sind hier passiert.

Die ersten krummen Dinger gedreht, die ersten Drogenerfahrungen, das erste Mal Gras verkauft. Die ersten Freunde fürs Leben gefunden. Meine erste Liebe kam aus Fünfhaus, das erste Mal Sex in ihrem Kinderzimmer, als ihre Eltern in der Wäscherei arbeiten waren, immer mit der Angst im Nacken, sie könnten früher zurückkommen und in der Tür stehen. Viel zu früh fertig gewesen.

Meine erste Crew hat sich hier gefunden, meine erstens Songs habe ich hier geschrieben, hier habe ich mich in Rap verliebt. Hier habe ich begonnen, meinen Traum zu leben. Die Straßen von Wien, eine Weile sogar mein zu Hause.

Meine Familie lebt hier, meine Freunde sind hier.

Mit dem Gefühl der Nostalgie in der Brust tippe ich meine Gedanken schwarz auf weiß in das Dokument auf meinem Laptop. Einer der Songs, die mir aus den Fingern fließen, einer der Songs, bei denen sich die Reime wie selbstverständlich in meinem Kopf zusammentun. Allerhand emotionales Zeug aber genau das, was ich fühle.

Erschreckend, wie schnell die Zeit umgegangen ist, es ist Anfang April, in zwei Monaten werde ich fünfunddreißig. Fünfunddreißig, für die meisten meiner Fans bin ich wahrscheinlich ein Dinosaurier. Erschreckend, einige der Mädels aus der ersten Reihe könnten locker meine Töchter sein.

Ein Gefühl, welches man als junger Mensch nicht versteht, wenn man sich umsieht und feststellt, dass man auf einmal alt geworden ist. Die ersten Menschen sind gestorben, die ersten haben Familien gegründet. Einige haben sich beruflich gemacht andere sind hängen geblieben, haben den Schritt vom Jugendlichen zum Erwachsenen nicht geschafft.

Dinge, die im Herzen präsent sind, Dinge, die einem den Charakter geprägt haben sind plötzlich fünfzehn Jahre oder mehr her obwohl sie noch immer nahe erscheinen. Zeit ist ein Hurensohn, der einem permanent im Nacken sitzt, manchmal so sehr, dass es einem die Kehle zu schnürt und man das Gefühl bekommt, das Lebend entrinne so schnell wie heller Sand in einem Sieb.

Übrig bleiben nur die großen Dinge, die, die nicht durch die feinen Sieblöcher hindurch passen. Die stärksten Erinnerungen, die übrig bleiben. Erschreckend, wie viele Dinge ich erlebt und viele Augenblicke ich wahrscheinlich schon vergessen habe.

Manchmal überkommt mich die Übelkeit, manchmal ist die Zeit wie eine eiskalte Hand, die nach mir greift, manchmal wird sie mir bewusst und ich falle ich eine sekundenlange Starre, wenn ich daran denke, dass alles irgendwann ein Ende hat. Alles.

Oft habe ich Angst, dass meine Zeit zu knapp wird, manchmal möchte ich sie anhalten.

Mein letztes Album als Raf Camora. Obwohl ich mir selbst ausgesucht habe, zu wissen, dass ich hier gerade sitze und die letzten Texte für meine Kunstfigur schreibe, hier an dem Punkt, an dem alles begonnen hat fühlt es sich wie ein Abschied an, der mir die Tränen in die Augen treibt.


Mit Isabelle telefoniere oder facetime ich meist meistens zwei Mal am Tag. Es ist komisch, sie übers Smartphone näher kennen zulernen und ihr so aus meinem Leben zu erzählen. Doch es ist in den letzten drei Wochen so vertraut geworden, dass ich es nicht mehr missen möchte, sie an den Dingen teilhaben zu lassen, die mich bewegen.

Raben  / RAF Camora / Bonez Mc/ Teil 1&2Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt