Kapitel 6

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Kapitel 6

Aylin Nazemi

„Wo warst du letzte Nacht?" Jibril schiebt sich an mir vorbei in meine Wohnung ohne, dass ich ihn hinein gebeten habe. Ohne Begrüßung, selbtverständlich. Danke auch. Es ist gerade mal zehn Uhr am Sonntagmorgen, ich habe ausnahmsweise mal ein freies Wochenende und hätte ausschlafen können- wäre ich nicht unsanft per Sturm aus dem Bett geklingelt worden. Ich trage Jogginghose und Top, habe mir noch nicht mal die Zähne geputzt, da ich direkt vom Bett zur Tür bin. Herzhaft gähne ich hinter vorgehaltener Hand, strecke mich, sodass mein Schultergelenk einmal knackt, ehe ich Jibril antworte.

„Feiern, in einer Bar und dann zu Hause. Komm doch rein, Bruderherz, setz dich." Ich verdrehe die Augen, schließe die Wohnungstür und folge ihm in die Küche.

„Du warst nicht zu Hause."

„Stimmt. Nicht vor halb drei.", gebe ich zurück und sehe ihm fest in die Augen.

„Karim sagt, du warst mit diesem Junkie unterwegs. Was soll das? Reicht es nicht, dass die Leute über dich reden, weil du Omar verlassen hast? Musst du dich jetzt noch mit drogenabhängigen Deutschen abgeben?"

„Moment.", stoppe ich ihn. „Omar hat mich betrogen."

„Omar ist ein guter Mann. Er ist Arzt.", sag mein Bruder und es klingt als wäre seine Berufswahl die Entschuldigung für alles.

„Er ist plastischer Chirurg, das zählt nicht als Arzt!", entfährt es mir. „Und ein guter Mann ist er mit Sicherheit nicht. Er hat eine Krankenschwester gevögelt, kurz nach dem er sich mit mir verlobt hat!", kontere ich, mache mich daran, Kaffee zu kochen.

„Er ist ein Mann, Aylin. Männer haben nun mal Bedürfnisse. Die Leute reden über unsere Familie, es war ehrenlos von dir, die Verlobung zu lösen." Er setzt sich an meinen kleinen Küchentisch, der gerade groß genug für zwei Personen ist. Ja, klar. Männer haben Bedürfnisse und darum ist es völlig okay, wenn sie ihre Wurst in jedes Senfglas tunken. Total verständlich.

„Ein Mann betrügt seine Frau nicht. Das ist ehrenlos.", brumme ich mit aufkeimender Wut. Westlich hin oder her, die Wurzeln stecken noch immer irgendwo im Kopf meines Bruders. „Und wer sind bitte die Leute? Irgendwelche hängengebliebenen Verwandten tausendsten Grades im Libanon? Oder die, die seit Jahren hier leben und immer noch nicht begriffen haben, dass es in Deutschland nun mal anders läuft? Ich pfeife von mir aus auf diese geheuchelte Ehre, Jibril. Sollte ich je heiraten, dann einen Mann, der treu und gut zu mir ist"

„Du vergreifst dich im Ton. Du kannst froh sein, dass du so einfach damit durchkommst.", sagt er und in seinem Tonfall schwingt der Hauch einer Drohung mit.

„Wir leben in einem Land, in dem es selbstverständlich ist, dass ich damit durchkomme.", gebe ich zurück. Etwas zu laut knalle ich die weiße Kaffeetasse, die ich soeben aus dem Schrak geholt habe, vor ihm auf den kleinen Holztisch. Sie wackelt, Jibril fängt sie auf, ehe sie herunter fallen kann. Ich schenke ihm Kaffee ein, der herbe Duft liegt in der Luft. Mein Bruder nimmt einen Schluck des heißen Getränks, verzieht nicht das Gesicht, obwohl er sich mit Sicherheit daran verbrüht hat.

„Ein guter Mann...", sagt er dann und sieht mich an. „Der von gestern ist es nicht und wird dir sicher nicht treu sein."

„Das sagst du, weil du ihn so gut kennst?", schieße ich. „Zumal, was denkst du bitte? John ist ein Freund von dem Typen, mit dem Isa was hat. Ein Bekannter. Ich hatte nichts mit ihm und ich weiß, wer er ist. Aber er war nett und ich kann mit netten Leuten ruhig mal losziehen. Ende der Diskussion.", mache ich meinem Bruder eine Ansage. Ich schenke auch mir Kaffee ein, kippe Milch und Zucker dazu. Als ich schwungvoll umrühre schwappt die Brühe über den Rand und kleckert auf ein paar Webeprospekte. Die kleine Pfütze ignorierend trinke auch ich einen Schluck.

Raben  / RAF Camora / Bonez Mc/ Teil 1&2Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt