Kapitel 41

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Kapitel 41


Isabelle Sommer


Mich selbst zur Ruhe zwingend atme ich tief durch, mehrfach, langsam so, wie es mir vor Ewigkeiten in der Therapie beigebracht wurde. Damit ich besser mit den Flashbacks umgehen lernte, damit ich nicht in Panikattacken versank, wenn die posttraumatische Belastungsstörung durchkam. Meine Hände sind so feucht, dass sie Spuren auf dem Leder meines Lenkrads hinterlassen.

Zwei Anläufe brauche ich, um meinen Wagen in eine der Lücken des großen Parkhauses vor der Charité zu steuern, völlige Seltenheit bei mir, denn einparken kann ich eigentlich im Schlaf. Meine Knie fühlen sich weich an, als ich aussteige und mich auf dem Weg in die Klinik mache. Dass ich in die Charité fahre nur ein Zeichen dafür, dass es für Thomas Sommer zu Ende geht, sonst wäre er wahrscheinlich im Krankenabteil der JVA. Er ist wohl nicht mehr in der Lage zu flüchten, fährt es mir in all meinem Zynismus durch den Kopf, während ich das Parkhaus verlasse.

Kurz denke ich an Raphael, kurz überlege ich, ihn doch noch anzurufen. Nur, um kurz seine Stimme zu hören. Und doch entscheide ich mich dagegen. Zehn Minuten, dann bin ich wieder raus aus dem Laden. Ich kann Raphael heute Abend noch immer sprechen, er soll in Ruhe arbeiten.

Nur kurz, einmal hingehen, meine letzte Pflicht als Tochter erfüllen. Ich schlucke, als ich die Klinik betrete, mich kurz orientieren muss und die Schilder studiere. Mit dem Aufzug in den achten Stock, das Zimmer hat Nate mir noch geschickt. Schnell schiebe ich mich durch die Aufzugtüren, ehe sie schließen. Gemeinsam mit einer alten Frau, einer Schwangeren und einem Typen mit Sauerstoffgerät auf seiner Gehhilfe fahre ich die Stockwerke nach oben. Die Schwangere steigt im Zweiten aus, die ältere Frau im fünften. Weil ich Halt brauche lehne ich mich an die Wand des Fahrstuhles, atme noch einmal durch.

„Angst vorm Fahrtstuhlfahren?", spricht mich der unbekannte Mann an. Ich sehe kurz auf. „Sie haben es gleich geschafft."

„Ja.", murmel ich nur. Verdammt, sieht man es mir so deutlich an, wie es mir geht? Der Aufzug ruckt einmal, bleibt stehen. Achter Stock, die Türen öffnen sich und ich trete hinaus auf den Gang. Desinfektionsmittegeruch, typische Krankenhausfarben an den Wänden und am Boden. Leere Betten stehen herum, mit Folien überzogen, eine Schwester läuft geschäftig über den Gang.

„Entschuldigung?", rufe ich und höre, dass meine Stimme zittert. Die Schwester bleibt stehen, dreht sich zu mir herum. „Ich suche Thomas Sommer.", sage ich, während ich auf sie zutrete. „Ich bin die Tochter."

Wahnsinn, dass ich diese Worte im Zusammenhang mit diesem Mann noch einmal aussprechen. Niemals hätte ich damit gerechnet, mich noch einmal als die Tochter von irgendjemandem zu bezeichnen. Ihr Blick ist mitleidig sie, nickt knapp.

„Kommen Sie mit Frau Sommer...ist doch richtig?"

Ich nicke ebenfalls und folge ihr durch die Gänge der Klinik, bis wir vor einer diesen typisch weißen und typisch großen Zimmertüren stehen bleiben.

„Schön, dass Sie doch noch hergekommen sind. Er hat immer wieder nach Ihnen gefragt.", sagt sie und meine Kehle schnürt sich zu. Was er wohl der Schwester erzählt hat? Ob sie weiß, was in unserer Familie geschehen ist? Ob sie mich für einen schlechten Menschen hält, weil ich nie hier war? „Ihre Brüder sind auch hier.", sagt sie und klopft an der Zimmertür, ehe sie sie öffnet.

„Herr Sommer, Sie haben nochmal Besuch bekommen. Ihre Tochter ist hier.", flötet sie beinahe gut gelaunt. Aber das muss sie wahrscheinlich auch sonst würde sie an dem Job hier zugrunde gehen. Wahrscheinlich ist die Freundlichkeit bei ihr eine ähnliche Mauer der Distanz wie bei mir die Wand vor dem Herzen.

Raben  / RAF Camora / Bonez Mc/ Teil 1&2Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt