Kapitel 32

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Kapitel 32



Isabelle Sommer


Mein Hals und meine Brust fühlen sich eng an, meine Knie, als wären sie aus Gummi, meine Hände sind feucht, mein Herz schlägt schneller. Ungeduldig wippe ich mit den Knien, während wir auf einem der schwarzen Stühle der Abflughalle am Gate sitzen. Als mir mein Gezappel bewusst wird, drücke ich meine Füße fest auf den Boden aus weißen Fliesen, doch meine Muskeln zittern noch immer.

Raphael sitzt neben mir, eine schwarze Schiene um seine gebrochene Hand, in sein Smartphone vertieft, grauer Trainingsanzug, eine Weste darüber deren Kapuze er aufgesetzt hat und obwohl wir uns im Flughafengebäude befinden trägt er Sonnenbrille.

Raphael Ragucci versucht, Undercover unterwegs zu sein, ich vermute, er würde eher nicht erkannt werden, wenn er ohne diesen Aufzug durch die Gegend läuft.

Ich hingegen versuche, gegen meine Flugangst anzukämpfen, will nicht, dass Raphael es mitbekommt. Ich atme durch. Noch fünfzehn Minuten, bis wir ins Flugzeug können welches uns von Marseille nach Wien bringen soll. Durch die bodentiefen Fenster der Halle sehe ich die Eurowingsmaschine bereits am Gate stehen. Zu meinem Herzrasen mischt sich bei dem Anblick Übelkeit. Noch dreißig Minuten und wir sind in der Luft- das Schlimmste sind der Start und die Landung. Wenn wir erst mal über den Wolken sind, wird es besser, hoffe ich zumindest.

Wir waren gestern gegen 23 Uhr wieder im Hotel, Raphael ist vollgepumpt mit Schmerzmitteln und wir haben wenig geschlafen. Nicht, weil wir die Finger wieder nicht voneinander lassen konnten und die Nacht damit verbracht haben, Sex zu haben, bis die Sonne auf geht wie sonst sondern, weil der elende Depp an meiner Seite sich vor Schmerzen hin und her gewälzt hat, bis die Sonne auf ging. Es hat gedauert, bis er einsah, Medikamente zu brauchen, ich weiß nicht, was das Theater sollte, ob er damit irgendwem beweisen wollte, wie dick seiner Eier sind. Doch irgendwann um zwei Uhr hat er aufgegeben und die Tabletten geschluckt. Es war halb drei, als er schließlich in meinen Armen einschlief. Irgendwie süß und wahrscheinlich Imageschädlich ohne Ende, wenn irgendjemand außer mir ihn so gesehen hätte. Ich sitzend, an das Kopfende des Bettes gelehnt, sein Kopf auf meinen Bauch gebettet, meine Finger sanft auf seinem Rücken, bis er sich endlich entspannte.

Ich war viel weniger wütend auf ihn, als ich es gespielt habe. Blöd für mich, stundenlang mit ihm in der Notaufnahme sitzen zu müssen, noch blöder, die ganze Nacht so gut wie gar nicht schlafen zu können, weil es ihm beschissen geht. Aber wer soll ihn in diesem Augenblick der Schwäche halten, wenn nicht ich es tue?

Es ist gerade mal Acht Uhr am Morgen, wir sind seit fünf Uhr auf den Beinen, ich habe vielleicht knappe zwei Stunden geschlafen und fühle mich gerädert. Dazu kommt meine Panik vor den Flug. Elendiger Scheißtag, er kann nur besser werden. Zumal ich das Eis aus dem Garda gewonnen habe.

John hat's versucht doch Aylin ist brav in ihr eigenes Bett gegangen. Ich wusste, dass ich auf meine Beste zählen kann. Sie ist noch im Hotel und vorhin extra aufgestanden, um uns zu verabschieden. Ihr Flug nach Berlin geht erst gegen dreizehn Uhr.

„Chérie, was ist los?", höre ich Raphaels tiefe Stimme leise neben mir. „Du bist nicht in Ordnung.", stellt er fest. Ich spüre seinen Blick auf mir.

„Alles cool.", meine ich und lächle ihn an.

„Setz das Lachen nicht auf. Ich merke das.", gibt er zurück.

Er streckt seine Hand aus, greift mir federleicht in den Nacken und streichelt mich sanft und beruhigend. Am liebsten würde ich mich in seine Arme werfen. Das erste Mal, dass ich seinen Schutz suchen würde- obwohl er mich vor meiner Angst nicht beschützen kann. Doch das Gefühl, mich ihm anvertrauen zu wollen ist neu- ich bin Zeit meines Lebens immer allein durch schwierige Situationen, weil ich niemanden belasten möchte. Auch wäre er nicht hier würde ich mich zusammen reißen und in das Flugzeug steigen, trotz meiner Angst. Ängste sind da, um sich ihnen zu stellen, je mehr man sich seiner Angst entzieht, umso schlimmer wird sie. Für einen Augenblick kommt mir der Gedanke, dass meine- wahrscheinlich wird es langsam aber sicher Liebe- zu ihm mich schwächer macht. Ich gebe Kontrolle ab, ich gebe Gefühle preis und mache ich damit verletzlich. Aber gleichzeitig fühle ich mich so unendlich viel stärker mit diesem Mann an meiner Seite. Dienstag werde ich das erste Mal in meinem Leben ganz allein fliegen- von Wien nach Berlin. Wahrscheinlich nicht das letzte Mal, dass ich diese Strecke fliegen werde. Grund genug mich dem zu stellen. Denn was tut man nicht alles für den Mann an seiner Seite? Für Raphael steige ich noch tausend Mal in ein Flugzeug, wenn ich es muss.

Raben  / RAF Camora / Bonez Mc/ Teil 1&2Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt