Kapitel 42

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Kapitel 42


Raphael Ragucci


Ohne Isabelle wirkt ihre Wohnung irgendwie leer, obwohl wir mit fünf Leuten in ihrem Wohnzimmer stehen. Aabit und Can sind mit hinauf gekommen, Vince steckt sich eine Zigarette an, obwohl er weiß, dass Isa es hasst, wenn irgendwo anders als an ihrem offenen Küchenfenster geraucht wird. Sie hat keinen Balkon, darum weicht sie immer dorthin aus.

Ihr Bruder stellt den leeren Aschenbecher auf das weiße Sideboard zu seiner linken, der Geruch seines Tabaks liegt sofort in der Luft. Und ich bin nervös.

„So, wo ist sie?", frage ich laut in die Runde und sehe von einem zum anderen. Ich rufe mich selbst zur Ruhe, ich reicht, dass ich mich eben auf der Straße schon nicht unter Kontrolle hatte.

„Also, Raf.", beginnt Nathan. Seine Stimme ruhig, seine Erscheinung noch immer abgekämpft. Erst jetzt im Licht sehe ich dass seine blauen Augen gerötet sind. Eigentlich ist er ein beeindruckender Typ, so groß wie ich doch viel massiger. Seine Schultern breiter, als meine, wenn ich streng trainieren gehe, das zerknittere Hemd spannt bei jeder Bewegung. Das dunkelblonde Haar dicht, Dreitagebart. Meiner Meinung nach sieht er aus wie der Typ aus Vikings. Doch gerade wirkt er irgendwie schwach und verletzlich. Passt gar nicht zu ihm. Ich hoffe, dass ich nicht auch so aussehe, wenn er gleich mit der Sprache rausrückt.

„Sprich, Alter.", fahre ich ihn an und klinge noch immer aggressiv. Sehe wahrscheinlich auch so aus.

„Isabelle ist im Krankenhaus.", lässt er mich wissen und plötzlich dreht sich alles in meinem Kopf. All die Szenarien prasseln auf mich ein und in meinem Kopf beginnt, ein Horrorfilm sich abzuspielen.

„Bleib ruhig, Bruder.", höre ich Vince sagen. Ich habe das Gefühl, zu platzen. Woher verdammt nochmal nehmen die Sommers ständig diese Ruhe?

„Warum?", fragt Can, bevor ich irgendetwas sagen kann.

„Unser Vater ist heute gestorben.", höre ich wieder Vince sagen, in dieser so ähnlichen Abgeklärtheit, die Isa oft hat. Als würde er mir erzählen, dass die Milch im Supermarkt aus war. „Wir waren alle drei bei ihm, bis es zuende war. Isa war die ganze Zeit cool. Aber als es vorbei war hatte sie einen Zusammenbruch, mit Flashbacks und Panikattacke. Sie ist bewusstlos geworden und hat sich den Kopf auf dem Boden aufgeschlagen, weil ich sie nicht schnell genug auffangen konnte. Sie muss heute Nacht dort bleiben."

„Wo ist sie?", frage ich nur. Weil mir nichts anderes einfällt. Wahrscheinlich hätte ich jetzt mein Beileid ausdrücken müssen. Doch ich denke nur an sie. Sie muss sich doch einfach elend fühlen. Wir haben nur einmal über ihren Vater gesprochen, seit so vielen Jahren hat sie ihn nicht mehr gesehen. Scheiße, ich will gar nicht wissen, wie sie sich fühlt. Ich will nur zu ihr, sie in die Arme nehmen und sehen, ob sie okay ist.

„Charité.", sagt Vince. Ich drehe mich herum, gehe geradewegs auf die Wohnzimmertür zu. Auf der Stelle werde ich dorthin fahren, auf Besuchszeiten scheißen und so lange einen Lauten machen, bis ich zu ihr darf. Ist mir alles egal nur ich werde sie jetzt nicht allein lassen.

„Du fährst nicht."

Vince schiebt sich vor mich, steht im Türrahmen. Genau so ein verfluchter Wickinger, wie sein Bruder, er nimmt beinahe den ganzen Rahmen ein. Der Blick aus seinen dunkelblauen Augen fest in meine Augen, seine Lippen zusammengepresst, sein Kiefer angespannt. Er kann also bedrohlich aussehen, wenn er es darauf anlegt. Sonst ist er oft noch jugendhaft, eigentlich lacht er viel und hat immer einen Spruch drauf. Doch jetzt gerade wirkt er um zehn Jahre gealtert.

Raben  / RAF Camora / Bonez Mc/ Teil 1&2Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt