Probearbeit

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Als ich einige Tage später, am Vormittag, in die Küche kam, musste ich feststellen, dass mein Bruder nicht da war. Ein Blick ins Wohnzimmer verriet mir, dass nur Sherlock vor dem Kamin stand und auf einige Fotos starrte, die er in der Bank gemacht hatte und die irgendwie mit seinem neuen Fall zu tun hatten. Einen Moment war ich von der Tatsache abgelenkt, dass er nicht wie gewöhnlich einen Anzug trug, sondern eine karierte Pyjama-Hose, ein graues T-Shirt und einen blauen Morgenmantel. Er wirkte in der Kleidung anders, viel menschlicher und nicht ganz so unnahbar und arrogant.

„Wo ist John?", fragte ich, während ich mir einen Tee machte und ein Tablett mit Frühstückresten zur Seite räumte, welches offensichtlich von Mrs. Hudson hochgebracht worden war.

Ich hatte die freundliche Vermieterin an meinem zweiten Tag in der Baker Street getroffen und sofort ins Herz geschlossen.

Da Sherlock nicht reagierte, ging ich davon aus, dass er mich nicht gehört hatte und stellte mich neben ihn. Ich schnipste ein paar Mal vor seinem Gesicht, bis er meine Hand packte.

„Lassen Sie das", fauchte er und drückte meine Hand nach unten.

„Willkommen zurück", antwortete ich grinsend. „Ich habe Sie gefragt, wo mein Bruder ist."

„Hat irgendetwas von einer Arztpraxis gesagt."

In dem Moment fiel es mir wieder ein. Heute hatte John sein Bewerbungsgespräch, zufällig am gleichen Tag wie mein erster Probearbeitstag im National Antiques Museum. Ich hatte mich bereits von Deutschland aus auf die Stelle beworben und ein Vorstellungsgespräch via Video-Chat gehabt, trotzdem war ich überrascht gewesen, dass man sich so schnell bei mir zurückgemeldet hatte.

Sherlock wandte sich bereits wieder den Fotos zu. Er und John hatten mir erzählt, dass es sich bei den seltsamen Zeichen wohl um eine Drohung an Van Coon handelte, einem Angestellten der Bank, den die beiden erschossen in seiner Wohnung gefunden hatten. Nachdenklich sah ich mir eins der Bilder genauer an, konnte aber aus dem seltsamen gelben Streifen, der quer über die Augen des Porträts gesprüht worden war, nicht wirklich an Informationen gewinnen.

„Wann müssen sie im Museum sein?", fragte Sherlock plötzlich neben mir und irritiert sah ich ihn an. An meinem ersten Tag in der Baker Street hatte er kaum eine richtige Information an mir deduzieren können, aber das hatte er wohl überwunden.

„In einer Stunde. Ich sollte mich vermutlich bald auf den Weg machen", antwortete ich und dachte an den Londoner Verkehr. Da ich noch kein Auto hatte und mir auch nicht sicher war, ob es ratsam wäre sich eins anzuschaffen, war ich auf Taxis und die U-Bahn angewiesen.

„Sie haben noch Zeit. Würden Sie jetzt losfahren, wären Sie zwanzig Minuten zu früh da. Trinken Sie doch einfach Ihren Tee, der jetzt vermutlich nur noch lauwarm ist."

Meinen Tee? Oh verdammt, den hatte ich ganz vergessen. Kopfschüttelnd ging ich zurück in die Küche und nippte kurz an der Tasse. Tatsächlich war das Wasser darin nicht mehr heiß. Sherlock bekam wohl doch mehr von seiner Umgebung mit als er uns andere manchmal glauben lassen wollte.

Seufzend leerte ich die Tasse und schnappte mir dann meine Tasche. Ein letzter Blick in den Spiegel, der im Flur hing und ich zupfte noch Mal meinen grünen Schal zu Recht, den ich zu der weißen Bluse und dem schwarzen Blaser angezogen hatte. Ich wollte elegant, aber nicht farblos rüber kommen an meinem ersten Tag.

Nach kurzer Überlegung nahm ich noch das Tablett an mich, um es Mrs. Hudson vorbei zu bringen. Auch wenn sie betont hatte, dass sie nicht die Haushälterin war, hatte bisher jeden Morgen ein von ihr zubereitetes Frühstück in der Küche gestanden.

„Ich bin dann ebenfalls unterwegs", rief ich in Richtung Wohnzimmer, natürlich ohne eine Reaktion zu erhalten. Erneut schüttelte ich den Kopf über meinen Mitbewohner und verließ die Wohnung.

Ich will keine perfekte Liebe, ich will deine!Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt