57 Es ist okay

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Es waren Stimmen zu hören. Ich spürte, wie mich jemand berührte, mir einen Kuss gab und die Gurte um mich legte. Ich drehte den Kopf und fasste instinktiv nach der Hand, die an meiner Seite den Gurt einschnappen ließ.  Das Licht war zwar nicht hell, aber ich blinzelte, bis ich endlich Chris vor mir erkannte. "Schhhh. Schlaf weiter. Wir fahren los. Ich hab noch was mit Andreas zu besprechen...." Er strich zärtlich über meine Finger. Es roch neben mir nach frisch geduschtem Mann und Chris. Sein Gesicht kam mir immer näher, dann gab er mir einen sanften Kuss. "Wir sind alle stolz auf dich!" flüsterte er mir zu. Aus dem Gang kam ein zustimmendes Gemurmel. Dann tauchte Andreas in meinem Blickfeld aus. "Sind wir wirklich. Du warst vorhin beim Abbau tatsächlich das Hauptthema. Sarah kann vielleicht morgen wieder selbst tanzen. Und jetzt schlaf weiter. Der Tag war etwas viel für dich, hm?" Andreas hatte den liebevoll väterlichen Ton aufgelegt, mit dem er schon so oft mit Mia gesprochen hatte. Er drückte meinen Arm kurz und lächelte freundlich. Dann sah ich wieder nur Chris. "Gute Nacht. Soll ich später zu dir kommen oder ein freies Bett nehmen?" Ich nickte nur verschlafen und genoss seine Fingerspitzen auf meiner Haut. Dass er mich nochmal küsste, bekam ich kaum noch mit. Am nächsten Morgen wachte ich von Stimmen neben mir auf. Ich hörte Schritte. Langsam erinnerte ich mich wieder daran, dass ich in dem engen Bett im Tourbus lag. Neben mir lag tatsächlich Chris. Ich hatte meinen Kopf auf seinem Arm und sein anderer Arm lag über meinem Bauch. Meine Uhr hatte ich noch am Handgelenk. Es war acht Uhr. Das erklärte das Erwachen um uns herum. Ich rüttelte, selbst noch müde, an ihm. Er blinzelte mich kurz an und gähnte dann ausgiebig. Um uns war es langsam ruhiger geworden. Unten hörte ich dafür Stimmengewirr. Der Bus schien schon auf dem Parkplatz zu stehen, denn er bewegte sich nicht mehr.

Ich wollte noch liegen bleiben. Und ich wollte, dass Chris es auch tat. Daher kuschelte ich mein Gesicht an seine Seite und küsste eine Stelle an seinem Hals. Ich spürte, wie sich sein Mund zu einem Lachen verzog. "Das kitzelt" krächzte er heiser. Ich küsste ihn nochmal und bewegte dabei meinen Kopf hin und her. Meine Haare waren immer noch zu dem Knoten gebunden. Erst jetzt fiel mir auf, dass ich mich garnicht ausgezogen hatte. Er lachte wieder. Dann bewegte er sich und ich verlor meinen Platz auf seinem Arm an seinem Hals und fiel auf die Matratze. Er lag auf die Seite gedreht neben mir und sah mich aus müden Augen an. "Ich bin stolz auf dich. So viel wollten wir dich eigentlich garnicht testen." Hellhörig richtete ich mich auch ein paar Zentimeter auf. "Das mit dem Tanzen gehörte nicht zum Plan. Und das mit dem Streiten auch nicht. Versprochen." Ich sah ihn an. "Pass mal auf! Das bedeutet fürs Erste, dass du nicht mehr ran darfst." "Damit bestrafst du dich nur selbst!" Denkste, dachte ich mir. Ich wusste ja, dass ich eh demnächst für eine Woche verhindert sein würde. Zufrieden grinsend sah ich ihn an. "Du meinst das Ernst?" Ich nickte. Er zog einen Schmollmund. Natürlich wollte ich ihn. Am liebsten auch jetzt. Aber Strafe musste sein. "Aufstehen?" "Wenn du aufstehen willst, musst du wohl über mich drüber klettern." Gut. Er wollte es so. Ich drückte ihn mit der Hand wieder auf die Matratze und  legte dann ein Bein über seine Körpermitte. Morgens hatten Männer ja ohnehin so ihre Phase. Und dann rutschte ich langsam über die Wölbung, die sich dort abzeichnete. Als ich auf ihm lag, war zwischen mir und der Decke der Koje kein Platz mehr. Ich sah ihm tief in die Augen. Und dann rutschte ich weiter Richtung Gang. Chris hielt mich fest und sah mich bettelnd an. Ich zog meine Lippen in meinen Mund, die Augenbrauen hoch und schüttelte den Kopf. Als ich sicher auf dem Gang zum Stehen kam, bekam er aber noch einen kurzen Kuss. Sehnsüchtig sah er mich an, aber ich blieb standhaft und zog meine Schuhe an. "Ich komm gleich nach" meinte er noch. Ich sah zu der deutlichen Wölbung in seiner Hose und nickte wissend. "Ist okay. Ich geh Zähne putzen."

Unten im Bus begrüßten mich die Anwesenden. Andreas war nicht dabei. Aber Marco saß wieder im Bus. Ich lugte durch die offene Tür. Wir parkten unweit der Halle in Mannheim. Aus dem Nachbarbus kam gerade Melanie raus. Ich schnappte mir meine Tasche und lief zu ihr rüber. Hier war es zum Glück nicht ganz so kalt wie in Frankfurt. Melanie begrüßte mich. "Du siehst echt fertig aus. Alles gut bei dir? Oder hast du Chris aus dem Bett geschmissen?" "Nein, nein alles gut. Aber ich kann mir denken, dass ich zerstört aussehe." Sie nickte nur schmunzelnd. "Wir gehen erstmal Zähneputzen... und so" sagte sie mit einem längeren Blick auf mich. Und tatsächlich benötigte ich eine Weile, um mich zu waschen, einzucremen und Zähne zu putzen. Die Haare waren einfach nur furchtbar. Ich sah aus wie ein Urmensch. Langsam entknotete ich die Haare von dem Haarband und versuchte sie dann zu kämmen. Leider brauchte das Zeit. Sarah kam rein und grinste vor sich hin. "Julian ist echt süß. Der hat mir noch die halbe Nacht geschrieben. Oh Gott, Andrea, alles klar?" Ich sah sie nur perplex an, weil sie mich so komisch ansah. Dann lachten wir alle drei los. "Wenn das Kathrin mitkriegt, kriegt sie eine Krise. Sie schwärmt immer so von deinen Haaren" lachte Melanie. Ich sprühte etwas zur Entwirrung auf den Haarknoten an meinem Hinterkopf und bürstete dann vorsichtig weiter. Das kalte Wasser hatte meinen Augen gut getan und auch meine Wangen hatten wieder Farbe. Die Haare ließ ich einfach offen. Mit dem Haarband war ich für heute durch, entschied ich. Als wir zu dritt und gut gelaunt Richtung Frühstück liefen, kam mir Marco entgegen. "Hey, ich hab deinen Auftritt mal in aller Verschwiegengheit an Janin geschickt. Voll gut, wie du das gemacht hast!" Mir stieg wieder die Röte ins Gesicht. Melanie erzählte dann Marco, dass Anna und Dominik vielleicht was am Laufen hätten und ich beruhigte mich wieder. Als wir vier ankamen, sah ich bereits Chris und Andreas an einem Tisch sitzen. Ich ließ mich mit den Anderen an dem selben Tisch nieder. Natürlich ließ man für mich nur den Platz neben Chris frei. Melanie stellte eine Tasse Kaffee vor meine Nase und ich bedankte mich bei ihr. Chris legte seinen Arm um mich und ich lehnte mich gegen ihn. "Was steht denn heute für mich an?" fragte ich mit schwacher Stimme in die Runde. Andreas schob mir sein Handy unter die Nase. Vor mir sah ich jetzt ein Bild von mir und Chris draußen vor der Halle in Frankfurt. Chris hatte sein Kinn auf meinen Kopf gelegt und stand hinter mir. Seine rote Jacke verdeckte mich nur so halb und man sah mein Kleid und seine blaue Jacke, die ich trug. Meine Augen waren geschlossen. Darunter gab es vom Ersteller den Kommentar 'Hat er eine Freundin? Wäre das nicht ein schönes Paar?' Oh Gott. Ich sah Andreas an und dann Chris. Und dann nahm ich erstmal einen großen Schluck Kaffee. "Das ist ein schönes Bild. Wir sind ein schönes Paar finde ich" sagte Chris und sah mich an. Ich richtete mich etwas auf. Noch ein Schluck Kaffee rann meinen trockenen Hals hinab. Immernoch sah ich auf dieses Bild. Ich lächelte ihn schüchtern an. Die Anderen lugten ebenfalls auf das Handy. Niemand sagte was an unserem Tisch. Ich bewegte meinen Finger. Schon über 200 Kommentare. Ich überflog sie ängstlich. Entweder stand dort, wo das Bild her sei oder es wurde gefragt, wer ich war. Es gab positive und negative Kommentare. Ich schloss meine Augen. Beim Überfliegen waren es meist positive Reaktionen. Und der Rest war nicht ganz so dramatisch verfasst, wie man es hätte vermuten können. Als ich die Augen wieder öffnete, sahen mich rund fünf Augenpaare gespannt an. "Es ist okay. Mir gehts gut. Ihr seid ja noch da" gab ich mit schwacher Stimme von mir. Mein Blick wanderte über den Tisch und blieb auf Chris Frühstück liegen. Ich klaute ihm sein Brötchen und biss hinein. "Mehr nicht?" Ich schüttelte verlegen den Kopf. Über Nacht habe ich meinen Kopf sortieren können. Meine Liebe war doch um einiges größer als der Fluchtreflex. Und ich würde einen Teufel tun, mehr Wert auf Andere zu legen als auf Chris. Oder Attila. Gedankenverloren biss ich nochmal in das Brötchen und schaute beim Kauen auf den Ring an meiner linken Hand. Es war schon sowas wie eine Vorstufe einer Verlobung. Aber ich würde niemals Ehrlich heißen wollen. Oh je, ich ahnte, dass das noch ordentlich Zoff geben würde. Aber heute war ich von gestern total erschossen. Und für meine Hormone konnte ich auch nichts. Ich griff also, kaum, dass ich das Brötchen aufgegessen hatte, nach der Schokolade vor Chris. Jetzt sah er mich wirklich dumm an. Wie ein Kind, dem man sein Spielzeug weg genommen hatte. "Was denn? Deine Frau hat Hunger!" Andreas, der neben Chris saß, verschluckte sich vor Lachen und brüllte nach dem Hustenanfall laut los vor Lachen. Chris sah mich völlig entgeistert an. "Soll ich dir noch was holen?" fragte er dann ganz niedlich und strich mir die Haare aus dem Gesicht. "Ja bitte." Und er stand auf und holte Nachschub für uns beide. Andreas lachte immer noch. Was bitte war daran so lustig? "Was ist denn mit dir los?" Andreas rutschte zu mir. "Du hast ihm gerade nicht ernsthaft sein Frühstück geklaut und ihn dann zum Nachschub holen geschickt? Voll geil. Jetzt ist er auch deine Assistentin." Ich musste nun auch lachen und wir klatschten uns ab. Ehe Chris wieder kam, rutschte Andreas wieder zurück.

Nach dem Frühstück wurde mitgeteilt, dass die Bühne endlich stand und das meiste der Technik auch. Nur ein LKW fehlte irgendwie noch. Ich klinkte mich bei Marco ein und ließ mir was zu Ton und Licht erklären. Das fand ich schon spannend. Vor allem den Teil, wo ich selbst die Regler betätigen durfte. Gut gelaunt machten wir den Soundcheck. Mit Rammstein. Das durfte ich mir sogar aussuchen. Einige drehten kurz mal frei  und schmissen ihre Köpfe durch die Luft. Wir lachten ziemlich viel und hörten dann endlich die guten Neuigkeiten, dass auch der letzte LKW endlich da sei. Überall rumpelte es. Ich half dabei, Zettel auf die ganzen Sitzplätze zu legen. Dann begannen die Proben. Ich bekam Hunger und holte mir zur Abwechslung etwas Obst. Mit meinem Handy bewaffnet zog ich mich in den Tourbus zurück.  Hier saß ich endlich ganz alleine und rief meine Mama an. Ich erzählte ihr alles ganzz genau, was ich alles erlebt hatte und das ich mit auf die Bühne gegangen war. Natürlich waren meine Eltern stolz auf mich und meine Schwester platzte vor lauter Begeisterung. Nach dem Telefonat beschloss ich, einen kleinen Mittagsschlaf zu machen und rollte mich oben auf Chris Schlafplatz wieder unter der Decke zusammen. Das Bett roch nach ihm und ich schlief glücklich ein. Nicht einen weiteren Gedanken hatte ich mehr an dieses Foto verschwendet. Das würde mich noch früh genug wieder einholen. Ich sank in meine Träume und stand wieder in dieser Glocke aus Licht. Alles war hell und warm. Um mich flog ein Schmetterling. Von weit weg hörte ich Applaus. Ich trug wieder dieses Kleid von gestern. Etwas drückte meine Hand. Wieder eine Kinderhand. Ich sah hinunter und in das Gesicht von Mia. Charly saß an meinen Füßen. Und von irgendwo kam eine Stimme. In meiner anderen Hand hatte ich auf einmal die Kette von Chris. Weit weg hörte ich den Applaus immer noch. Entsetzt sah ich auf meine Hand mit der Kette. Die Stimme wurde immer deutlicher. Sie sprach mit mir. Es war eine Männerstimme. Ich kannte sie. Aber woher? Dann verstand ich die Worte, die an mein Ohr drangen. 'Seid füreinander da. IHR seid füreinander da.' Dann schlug ich die Augen auf. Mein Herz raste. Meine Hände waren leer. Die Show lief bereits. Mein Handy zeigte eine Nachricht von Chris. 'Schlaf schön. Ich wollte dich nicht wecken.' Ein Herz dahinter.

Einer Intuition folgend sprang ich fast schon hektisch aus der Koje, zog die Schuhe und die Jacke an und rannte zur Halle. An der Bühne sah ich, wie nun Chris verarztet wurde. Alle sahen mich an, wie ich hereingestürzt kam. Chris sah mich an. Ich kniete mich vor ihn. Er blutete am Arm. "Woher wusstest du das?" "Ich hab es geträumt. Schöne Grüße von deinem Vater." Sein Blick traf meinen. Er nickte. Er wusste es. Dieses Band zwischen uns wurde immer fester. "Ich bin von der Kante abgerutscht bei der Illusion. Wir haben es zwar noch beendet, aber das suppt ganz schön." Chris war ganz blass. Ich strich ihm über das Gesicht, während sein Arm verbunden wurde. Der Arme konnte scheinbar wirklich kein Blut sehen. "Sonst ist alles okay?" "Ja, ich hab mich nur an der Ecke gestoßen. Mehr nicht." Ich gab ihm einen Kuss auf die Stirn. Dann saß der Verband und er stand auf. Es musste ja weiter gehen. Ich setzte mich wieder an den Rand zu Kathrin und verfolgte das Spektakel mit einem Kaffee in der Hand.

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