68 Kapitel

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Samantha P.o.V.

„Sam! Paket für dich", rief Damon durch den Flur. Sofort ließ ich meine Matheaufgaben mit ihren Problemen alleine und sprang auf. An meiner Zimmertür hielt ich inne. Wenn die Jungs merkten, dass ich auf das Paket gewartet hatte, würde es nur weitere Probleme und Fragen geben. Betont langsam öffnete ich die Tür und schlenderte gemächlich ins Wohnzimmer. Damon brütete am Couchtisch über seiner eigenen Post und sah nicht mal auf als ich ins Zimmer trat. Das Paket ruhte neben seinen Sachen auf dem halbhohen Glastisch.
Perfekt.
Er hatte heute Samantha-Dienst. Mein Bruder war irgendwo, vermutlich bei Sonja, und somit hatte Damon den Job des Samsitters übernommen. Für mich gab es schlimmeres, für ihn sicher besseres. Ich setzte mich auf dem Boden vorm Tisch und zog das Paket an mich heran. Aufmerksam wie er war, reichte er mir eine Schere. Eifrig machte ich mich daran, dass mittelgroße und grausam verpackte Paket zu öffnen. „Wer schickt dir denn was", fragte er interessiert. Sein Blick ruhte weiterhin auf seinem Brief. „Grace", presste ich zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor. Dieses Mädchen konnte echt gar nichts. Vermutlich hatte sie eine ganze Rolle Paketband für dieses Päckchen verbraucht. Selbst ein Gefängnis war nur halb so sicher wie der Inhalt dieses Päckchens. Als Damon meine Bemühungen bemerkte, hörte er auf zu lesen und beobachtete mich amüsiert. „Will sie überhaupt, dass du den Inhalt bekommst?" „Bezweifle ich", brummelte ich und rammte die Schere wieder durch einen Streifen Klebeband. „So geht das nicht", kommentierte er lachend und packte meine Hände. Kurz erstarrte ich, dann ließ ich schnell das Paket los und reichte ihm die Schere. Verlegen wich ich seinem Blick aus. Plötzliche Berührungen waren einfach nicht meins.
„Probiere es aus", erwiderte ich hastig. Als wäre nichts gewesen packte er das Paket und zog es an sich heran.

Nach mehreren vergeblichen Versuchen fuhr er sich durch seine längeren Haare und stöhnte auf. „Alter Schwede. Wer soll da jemals rankommen?" Ich konnte nur mit den Schultern zucken. Als Grace mir versprach, mir den gefälschten Ausweis zu schicken, hatte ich an einen Brief gedacht, aber nicht an sowas hier. „Ich glaube, sie will sich für irgendwas rächen. Wenn ich nur wüsste wofür", jammerte ich. „Dieses Mädchen trägt auch zu viel Hass mit sich rum", schnaufte Damon und säbelte mühsam eine kurze Seite auf. „Ehrlich. So ein Paket würde ich nichtmal meinem größten Feind schicken." Ob er damit Basti meinte? Kurz überlegte ich, ob ich Bastian so ein Paket hinterlassen sollte, doch ich verwarf den Gedanken sofort.
Das wäre zu nett.
Lieber würde ich ihm eine Handgranate hinterlassen. Oder zum Abschied nochmal ordentlich in die polierte Fresse schlagen. Aber um ehrlich zu sein, würde ich vermutlich nichts davon machen. Soll er doch sein tolles Leben weiterführen.
Minimale Eifersucht.
Etwas eifersüchtig auf ihn war ich tatsächlich. Die Taten meines Vaters und auch seinen Tod nahm er ganz gelassen auf und lebte einfach vergnügt weiter. Der Engel in mir widersprach diesem Gedanken sofort. Vermutlich hielt mein Bruder einfach nur seine Gedankenwelt vor mir verschlossen und wollte mich nicht noch mehr belasten. Dennoch beneidete ich ihn alleine um den Fakt, dass er jahrelang ohne meinen Vater leben konnte und auch kein schlechtes Gewissen für seine Abwesenheit hatte. Da Karma ja bekanntlich eine Bitch war und man alles irgendwann zurückbekam, hatte er mich jetzt halt an der Backe. Für uns beide ein Fluch und definitiv kein Segen. Dennoch hätte ich gerne mein Leben mit ihm getauscht.

„Ich hab's", rief Damon glücklich aus und riss mich aus meiner Gedankenwelt. Stolz wie Oskar schob er das offene Paket zu mir rüber. „Bitte sehr, die Dame." Er deutete eine leichte Verbeugung an. Anerkennend nickte ich ihm zu und hauchte ein leises Danke. „Also, was ist drin", fragte er neugierig und beugte sich über den Tisch.
Fuck.
Hoffentlich hatte Grace den Personalausweis gut versteckt. Vorsichtig öffnete ich das Paket. Zum Vorschein kam eine Chipstüte. Ein Zettel klebte darauf. Damon ergriff ihn und laß laut vor: „Damit du mal etwas zunimmst." Mit dem Zettelchen in der Hand deutete er auf mich. „Wo sie Recht hat, hat sie Recht." „Wehe du sagst ihr, dass sie Recht hat. Dann wird sie unausstehlich", grummelte ich leicht beleidigt. Wieso mussten sich alle gegen mich verschwören? Ich aß doch schon mehr als vor ein paar Monaten. „Deal, aber dafür holen wir uns nachher schön fett Döner", grinste er hinterhältig.
Arschloch.
Ergeben nickte ich. Was freute ich mich darauf, noch mehr fettiges Essen in mich hineinzustopfen. Die Freude war so riesig, dass sie nicht mit Worten zu beschreiben war.
Schnell zog ich noch M&Ms, eine scheinbar leere Ben&Jerry Packung und zwei Tafeln Schokolade hervor. Ein weiterer Zettel lag auf dem ehemaligen Eisbehälter. „Es war einfach zu lecker und da man Eis eh nicht verschicken kann, habe ich es schon für dich gegessen. Die Kalorien werden demnächst auf dein Konto abgebucht." Kopfschüttelnd sah ich nochmal in den Karton und zauberte Mikrowellenpopcorn hervor. „Ich behaupte mal, dass du für die nächste Zeit ausgestattet bist", kommentierte Damon und wandte sich wieder seiner Post zu. Anscheinend hatte er entschieden, dann nichts gefährliches drin war und ich den Inhalt behalten konnte. Gütig.

Schnell räumte ich alle zusammen und brachte es in mein Zimmer. Dort breitete ich es auf meinem Bett aus und betrachtete den Inhalt. In der leeren Eispackung, in die wir nicht hinein geschaut hatten, befand sich ein festgeklebtes Pfefferspray. Sorgfältig löste ich es. Dann begutachtete ich den Rest. Die Chips, die Schokolade und die M&Ms waren unangetastet und verschlossen. Einzig das Popcorn hatte einen kleinen unauffälligen Schlitz in der Verpackung. Umständlich öffnete ich die Verpackung und zerrte einmal das Popcorn und dann eine Karte hervor. Triumphierend begutachtete ich das gute Stück. Grace konnte einfach alles und kannte für jeden Mist irgendwelche Leute. Grimmig schaute ich mir von dem Passfoto entgegen. Der einzige Unterschied zu meinem eigenen Original war, dass ich dort nicht Samantha Duncan sondern Michelle Sophie Hamilton hieß. Schnell kramte ich mein Portemonnaie hervor und steckte ihn ein. Dann ergriff ich mein Handy. „Bitte, gern geschehen", lautete ihre vorlaute Begrüßung. „Du bist einfach super", lachte ich und hätte sie am liebsten umarmt. „Ich weiß." Ein Glück war sie ja nicht arrogant. „Tu mir nur einen Gefallen", sprach sie plötzlich todernst. Überrascht über ihren Ton schaute ich kurz aufs Handy, doch leider verriet es mir nicht den Grund für ihren Stimmungswechsel. „Jeden", versprach ich sofort. Sie hatte so viel für mich getan. „Betrinke dich einmal für mich in Vegas mit, esse für mich ein Croissants in Paris, spucke für mich von der Tower Bridge und Grüße Hitler von mir. Und wage es ja nicht mich zu vergessen. Schließlich bin ich dein Engel in der Not." „Also Hitler ist tot, aber ansonsten werde ich alles andere versuchen möglich zu machen." Kurz schwieg sie. „Sam?" „Hm." „Pass auf dich auf, Prinzessin." Ein kleines Lächeln erschien auf meinem Gesicht. „Ich gebe mein Bestes." Nun schwiegen wir uns beide an. Schließlich gab ich mir einen Ruck. „Warum hilfst du mir eigentlich? Du könntest genauso gut zu meinem Bruder rennen und alles petzen." „Zu der Pfeife würde ich nicht einmal im Traum rennen", gab sie spöttisch von sich. „Ich helfe dir, weil du irgendwie so etwas wie eine Freundin für mich bist. Und außerdem würdest du mir nie wieder irgendwas erzählen, also behalte ich es für mich und versuche dich so gut es geht zu unterstützen. Mehr kann ich leider nicht machen." „Du machst mehr als irgendjemand sonst für mich je getan hat", wisperte ich leise und schloss kurz die Augen. Ich werde sie vermissen.

Broken InsideWo Geschichten leben. Entdecke jetzt