24 Kapitel

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Samantha P.o.V.

Schweigend saß ich in meinem Bett. Mein übergroßes Schaf hielt ich fest in meinem Arm. Der weiche Stoff kitzelte in meinem Gesicht, doch ich wollte nicht aufschauen. Denn dann hätte ich Damons tadelnden Blick gesehen und genau das wollte ich verhindern. Er sollte mich einfach in Ruhe lassen.
„Sam", begann er mit sanfter Stimme zu sprechen, doch ich ignorierte ihn. „Geht es dir gut?"
Was sollte diese Frage? Wieso fragte mich jeder das?
Würde es mir gut gehen, würde ich anders aussehen und mich anders verhalten.
Ruckartig hob ich den Kopf. Unsere Blicke trafen sich und er fuhr sich schuldbewusst durch die langen Haare. Störrisch starrte ich ihn weiter an. „Okay. Die Frage war dämlich", gestand er sich unsicher lächelnd ein. Leicht neigte ich den Kopf. Er saß auf der Bettkante und sah mich mit diesem erwartungsvollen Blick an. Es war einer dieser Blicke, wo du schon wusstet, du würdest deinen Gegenüber bitter enttäuschen, da du seine Anforderungen und Erwartungen nicht erfüllen konntest.
Wie ich diesen Blick hasste.
„Basti hat unendliche Schuldgefühle deshalb, dass kannst du mir glauben." Das ich nicht einmal sauer auf meinen Bruder war, verstand er nicht. Ich war sauer auf mich selbst. Ich war sauer darauf, dass mein Instinkt Angst vor meinem eigenen Bruder hatte. Mein Bruder hatte mir nur helfen wollen und dennoch hatte mein Unterbewusstsein ihn als Feind deklariert. Frustriert prustete ich mir die nach vorne gefallenen Haare aus meinem Gesicht.

Anscheinend hatte Damon sich eine wörtliche Antwort erhofft, denn das hoffnungsvolle Glitzern in seinen Augen erlosch. Wie gesagt: Ich erfüllte meistens nicht die Erwartungen der Anderen. Meinen Vater hatte ich schon schwer enttäuscht, dann Basti und nun auch noch Damon. Die Liste wurde immer länger. Ob ich irgendwann einen Orden dafür bekommen würde?
Nervös biss sich der sonst so coole Damon auf die Unterlippe. Anscheinend war er mit seinem Latein am Ende. „Wie geht es dir?" Genervt verdrehte ich die Augen. Mein Bauch schmerzte bestialisch, aber immerhin war ich den Feind los. Beschweren werde ich mich darüber definitiv nicht. Über die festen Armbandagen könnte ich mich beschweren, doch ich schwieg viel lieber. Trotzdem bemerkte er meinen Blick. Er seufzte. „Habe ich dir eigentlich schon mal erzählt, warum ich Arzt werden will?"
Das wir so gut wie noch nie wirklich miteinander gesprochen hatte, ließ er aus. „Ich hatte einen Bruder." Geschichten die mit hatte anfingen, endeten immer mies. Für solche Geschichten war ich nicht gerade die beste Zuhörerin. Mein Leben war selber so eine hatte-Geschichte.
Ich hatte mal einen Vater.
Trotzdem setzte ich mich aufrechter hin und sah Damon aufmerksam aus meinem gesunden Auge an. „Alex", Damons Stimme hatte einen sanften Ton angenommen. „Ich würde nie behaupten, dass wir eine gute Beziehung hatten, aber ein schlechtes Verhältnis hatten wir auch nicht. Wir hatten einfach irgendwann angefangen, aneinander vorbei zu leben. Aus der Distanz bemerkte ich, wie sehr Alex sich veränderte. Er fand andere Freunde, andere Hobbys und andere Freizeitbeschäftigungen. Saufen, rauchen. Das volle Programm. Tja. Ich habe nichts gemacht. Nichts verändert. Nirgendwo eingeschritten. Ich war ein toller großer Bruder, nicht?" Er lachte kurz auf. Was genau diese Geschichte bei mir bewirken soll, verstand ich nicht. Trotzdem hörte ich aufmerksam zu. Zuhören konnte ich schon immer gut. Reden war dagegen noch nie meine Stärke.
Reden ist Silber, Schweigen ist Gold.
„Meine Eltern versuchten ihn zu ändern. Doch je mehr sie auf ihn einredete, desto mehr fuhr er sich auf seinem falschen Weg fest. Und irgendwann fand ich ihn. Es war Zufall. Ich war einfach nur noch einmal spazieren gegangen, um Abschied von meinem Zuhause zunehmen. Weißt du, ich wollte eigentlich am nächsten Tag wegziehen. Statt eines ruhigen Abschieds fand ich auf meiner Abschiedsrunde die Bande meines Bruders. Nur ohne meinen Bruder. Als sie mich sahen, wurde ihr Gesichtsausdruck ganz verlegen und panisch. Da wusste ich, es stimmte irgendwas nicht. Das Ende der Geschichte ist folgendes: Ich fand meinen Bruder. Halbtot. Er starb in meinen Armen. Seitdem habe ich mir geschworen, niemals mehr so hilflos zu sein."

Tief atmete ich durch. Die unterschwellige Aussage dieser Geschichte, war mir immer noch ein Rätsel. Woran sein Bruder gestorben war, erzählte er mir nicht. Er sah mich nur mit unendlich traurigen Augen an. Meine anfängliche Skepsis ihm gegenüber verschwand immer mehr. „Sam. In irgendeiner verrückten Art und Weise erinnerst du mich an ihn. Immer wenn ich dir in die Augen schaue, sehe ich meinen Bruder. Ich habe ihn sterben sehen, aber ich will nicht auch noch sehen, wie die kleine Schwester meines besten Freundes sich selbst zerstört. Denn genau das hat mein Bruder getan. Und ich werde alles tun, um es bei dir zu verhindern! Genau wie dein Bruder. Er würde für dich sterben." Ich sah den langhaarigen jungen Mann lange an. Dann wanderte mein Blick zu meinen Armen und wieder zu ihn. Er dachte wohl, ich hatte versucht mich umzubringen. Eigentlich hatte ich Damon für intelligenter eingeschätzt. Er müsste doch wissen, dass ich einen Selbstmord komplett anders angegangen wäre. Niemand ritzt sich nur oberflächlich die Arme auf, wenn er sterben will. Entweder ganz oder gar nicht.

„Sam", begann er mit rauer Stimme weiter zu reden. „Bitte versprich mir eins: Wenn du wirklich irgendetwas in diese Richtung in Erwägung ziehst, dann rede mit mir. Wenn du nicht mit deiner Psychologin reden willst, dann mit deinem Bruder oder mir. Okay?" Ich hasste Versprechen. Ich brach sie mit Vorliebe und auch dieses war eins, welches ich niemals einhalten würde. Ich würde weder mit Basti noch mit Damon darüber reden. Ich würde mit niemandem darüber reden. Würde ich den Scheiß namens Leben wirklich beenden wollen, dann würde ich es still und heimlich durchziehen. Schließlich war es mein Leben und es wurde schon zu viel darüber bestimmt. Wenigstens das Ende möchte ich selbst entscheiden. Sowohl wie es passiert, als auch wann es passiert. Das würde mir niemand nehmen können. Mein Vater hatte mir mein Leben genommen, aber meinen Tod würde er nicht kriegen.
Niemals.

Broken InsideWo Geschichten leben. Entdecke jetzt