26 Kapitel

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Samantha P.o.V.

„Also Sam. Wie sieht es aus? Lust auf eine Runde Weihnachtssaufen?" Harry schnitt mir den Weg ab und baute sich in voller Größe vor mir auf. Leicht eingeschüchtert blieb ich stehen und sah ihn fragend an. Die Stunde war nur so an mir vorbei gerauscht. Nichts war in meinem Kopf geblieben. Beteiligt hatte ich mich auch nicht. Meine Gedanken waren auf einmal wieder Amok gelaufen und hatten meine komplette Aufmerksamkeit gefordert. Dementsprechend war ich nur physisch anwesend gewesen. Aber hey, besser als gar nicht anwesend zu sein.
Alles positiv sehen.
Da morgen Weihnachten war, hatte Lisa unsere Gruppe spontan zwanzig Minuten früher entlassen. Anscheinend hatte sie uns allen auch vor Tagen eine Nachricht geschickt, doch ich hatte sie nicht bekommen. Oder bemerkt. Bei dem Chaos der letzten Zeit, war dies auch kein Wunder. Und bevor Madam mit mir über meinen Ausrutscher reden konnte, war ich geflohen. Als Erste hatte ich den Raum verlassen und im Eiltempo raus gehetzt. Kurz vorm großen Haupteingang hatte mich die Gruppe jetzt abgefangen. Josefine sah mich finster an. Sie hatte ihr Gesicht nach geschminkt, weshalb man keine Verletzung mehr sehen konnte. Leider war ich ein Profi im Vertuschen von Wunden. Daher fielen mir die kleinen übergeschminkten blauen Flecken immer noch auf. Schnell wandte ich den Blick ab und schaute den ungeduldigen Riesen vor mir an. Dieser sah mich erwartungsfroh an.

Entschieden drängelte ich mich an ihm vorbei und trat in die eiskalte Außenwelt. Zitternd zerrte ich den Mantel enger an meinen dünnen Körper. Ich hasste den Winter. Leider hatte ich mitten in dieser kalten Jahreszeit Geburtstag. Entweder lag dann Schnee oder es regnete. Ekelig. Widerlich. Absolut nicht mein Wetter. Ich möchte es lieber warm und gemütlich. Wenn die Sonne schien, war ich glücklich. Bei diesem Wetter wollte ich dagegen nur im Bett bleiben. Bevor ich jedoch weiter über den dreckigen Asphalt laufen konnte, packte mich eine kräftige Hand und wirbelte mich herum. Ruckartig löste ich mich aus dem Griff und sah Harry verletzt an. „Sorry." Beschwichtigend hob er beide Hände, dann grinste er wieder breit. Abschätzend ging ich zurück. Je mehr Abstand zwischen uns war, desto besser. „Also was ist? Weihnachtssaufen? Vertreibt Kummer und Sorgen, dass kann ich dir garantieren."
Machte die Gruppe sowas öfters? Oder sprach er aus seiner eigenen Erfahrung?
„Wir nennen es auch Festtagssaufen. Absolut effektiv, wenn du deinem Kummer entkommen willst", erklärte Sebastian und grinste mich wieder einmal breit an. Anscheinend kannten die sich echt lange. Das sprach nicht gerade für Lisas Fähigkeiten als Therapeutin. Alles in mir schrie danach, endlich wieder Alkohol zu trinken und alles zu vergessen. Einzig und allein das Ziehen in meinem Bauch hinderte mich daran sofort ja zu schreien. Zwar war ich nicht mehr schwanger, aber die Schmerzen der Nacht waren immer noch in meinem Kopf. „Was habe ich gesagt? Die kleine Prinzessin trinkt nicht", rief Josefine und sah mich an. Abwertend hob ich eine Augenbraue. Alkohol ist zum Saufen und nicht zum Trinken da.
Banausin.
Trotzig reckte ich das Kinn und starrte das dunkelgekleidete Mädchen finster an. Sofort jubelten die Jungs auf. Anscheinend sagte mein Blick alles. „Ich würde sagen, sie trinkt sehr wohl! Hätte mich auch gewundert, wenn es anders wäre." Zufrieden rieb Sebastian seine Hände ineinander und lächelte spitzbübisch in die Runde. Mein Blick wanderte zu unserer Magersüchtigen. Alkohol wäre sicher nicht gut für ihren entkräfteten Körper. Allerdings war sie vermutlich eh nur ein paar Kilo leichter als ich. Als Marilyn meinen Blick sah, lächelte sie schüchtern. „Keine Angst. Ich kann das ab." Beeindruckt sah ich das lebende Skelett an. Sie war noch dünner als ich es war. Aber ihre Augen schauten mich zuversichtlich und erwartungsvoll an, weshalb ich vermutete, dass sie neben einer Essstörung auch ein Alkholproblem hatte.
Reizende Gruppe.
„Also, wie sieht es jetzt aus?" Abwartend schaute mich Harry an. Kurz zückte ich mein Handy. Zwanzig Minuten in der Kälte warten oder ein bisschen was trinken? Schwierige Frage. Ich nickte der Gruppe zu. Sofort jubelten sie auf, klatschten sich ab und grinsten mich stolz an. Doch mein Blick haftete weiter am Handydisplay. Ich hatte keine neuen Nachrichten. Leicht enttäuscht scrolle ich durch WhatsApp. Lucas hatte mir jeden Tag geschrieben. Immer. Selten hatte ich geantwortet. In den letzten Tagen hatten wir ein paar mal geschrieben, aber seit gestern Abend war Funkstille. Er war öfters online gewesen, aber er schrieb mir nicht. Genauso wie meine anderen Freunde aus Amerika. Anscheinend genossen sie Weihnachten ohne mich. Auf meine Frage, was sie an Weihnachten vorhatten, hatte niemand geantwortet. Auch nicht auf die Frage, ob sie in den Ferien Zuhause oder im Urlaub waren. Sie lebten ihr Leben weiter.

Wut erfasste mich. Abrupt machte ich mein Handy komplett aus und sah die Aufbruch bereite Gruppe an. „Los geht's", wisperte ich kaum hörbar. Wir gingen zum Weihnachtsmarkt, welcher nur zwei Minuten vom Krankenhaus entfernt war. Minuten später hatten wir alle eine warme Tasse Glühwein in den kalten Händen, doch bevor ich von dem heißen Getränk trinken konnte, stoppte Sebastian mich. „Stopp. Warte noch einen Augenblick." Abwartend sah ich den Jungen an. Von seinen Aggressionproblemen hatte ich noch nichts mitbekommen. Mich erinnerte er eher ein einen großen Spaßvogel. Dennoch konnte unter seiner lieben Oberfläche natürlich noch was anderes lauern. Harry sah sich um, dann nickte er Josefine zu. Blitzschnell zückte sie zwei Flachmänner und verteilte den Inhalt auf die Becher. „Jetzt darfst du trinken!" Ich bedankte mich spöttisch für diese Erlaubnis und setzte die Tasse an meine spröden Lippen. Am liebsten hätte ich das Getränk sofort wieder abgestellt, aber Josefines lauernder Blick hinderte mich daran. „Geil oder? Ein paar Schlücke von Finches Spezialgetränk und du vergisst die Welt um dich herum", erörtere mir Harry das Getränk. Genüsslich machten sich die anderen über die interessante Mischung her.

Vergessen war wohl der Hass von uns allen und das vereinte uns. Eine plötzliche Ruhe breitete sich über unserer Gruppe aus. Einvernehmlich hingen wir unseren Gedanken nach. Es gab keine Zicken oder Beleidigungen. Für diesen kurzen Moment waren wir Freunde in unserer eigenen vernebelten Welt. Ruhig standen wir da und tranken ruhig unsere warmen Getränke. Alles war gut, bis zu dem Moment wo ich Marilyns Uhr sah. Es war zwanzig vor fünf. Damon wartete seit zehn Minuten auf mich.
Fuck.

Broken InsideWo Geschichten leben. Entdecke jetzt