42 Kapitel

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Lucas P.o.V.

Es gab nichts schlimmeres, als Sams Anblick. Zum einen gab es ihr Äußeres Erscheinungsbild, was einem leider wirklich verschrecken konnte. An manchen Tagen wirkte ihre Haut so unnatürlich weiß, das ihre rötlichen Narben nur noch mehr zu sehen waren. Wir hatten uns zwar an den Anblick gewöhnt, aber trotzdem war es jedes Mal ein neuer innerer Herzinfarkt, wenn man die Auswirkungen ihres Vaters an ihr sah. Nach all den Wochen wirkte es, als sei er immer noch live da und würde sie misshandeln. Ein weiterer Punkt, der einen dazu brachte wegzuschauen, war ihre Aura. Ihre Augen waren immer abweisend. An manchen Momenten schimmerte jedoch die tiefe Traurigkeit und Verletzlichkeit hindurch. Alle ihre Schritte waren energielos. Sobald sie einen Raum betrat, war dieser mit ihrer grenzenlosen Traurigkeit erfüllt. Ihr Leiden war greifbar. Es war so präsent. Es zeigte sich in ihren kleinen, schlappen Schritten, in ihren langsamen Reaktionen, in ihren tiefen Augen.
Sie sah so traurig aus. So einsam. So verlassen.

Ihre langen Haare hatte sie zu einem lockeren Zopf gebunden. Er pendelte bei jedem ihrer Schritte mit, wobei das Zopfgummi immer weiter rutschte. Es störte sie nicht. Artig ließ sie die Glückwünsche, die Umarmungen und die Küsschen ergehen, ehe sie sich zu uns setzte. Ihre Augen huschten unruhig von A nach B. Unsicher lächelnd nahm sie das flache Geschenk von Hannah entgegen, welche übers ganze Gesicht strahlte. „Du wirst es lieben", versprach sie Sam, welche nur gequälter als zuvor aussah. Uns anderen war auch klar: Sam würde es nicht lieben. Hannahs Geschmack war speziell und auch ihr Einfühlungsvermögen ließ zu wünschen übrig. So sehr sie sich auch bemühte, sie würde einfach immer das Einfühlungsvermögen einer Boxerin haben. Unter dem blauen Papier zeichnete sich der harte Rücken eines Buches ab. Mit einer schnellen Bewegungen beseitigte Sam das Geschenkpapier und ließ fast das Buch fallen.
Es war ein Fotobuch. Hannah quietschte begeistert auf, rannte zu Sam und drückte sie fest, so dass diese sich noch mehr anspannte und immer kleiner wurde. „Alles Gute zum Geburtstag. Endlich bist du achtzehn Jahre alt!"
„Durch die Jahre", laß Leon vor, verzog das Gesicht und gab das Buch an Elli weiter. Diese schaute das Buchcover nicht einmal an, sondern reichte es sofort mir. Ein Selfie von Hannah und Samantha strahlte mich an. Beide mussten da ungefähr vierzehn Jahre alt gewesen sein. Hannah trug noch eine Zahnspange, während Sam so aussah wie jetzt. Nur jünger. Und vielleicht weniger mitgenommen.
Diego grunzte wenig begeistert auf und schaute sich mit mir zusammen die Bilder an. Sam hatte das Buch bislang nur angestarrt, als würde es sie jeden Moment fressen wollen. Lauter Bilder aus ihrer Kindheit sprangen uns entgegen.
Sam, wie sie lachte.
Sam, wie sie und Hannah in Kleidern vor einer Treppe standen. Bereit für ihren ersten Schulball.
Sam, wie sie als kleines Kind mit Hannah im Sandkasten spielte.
Sam, ohne Narbe.
Sam, ohne ihre ganze Last, die sie mit sich trug.
Die Sam auf den ältesten Bildern war glücklich.
Die Sam auf den jüngsten Bildern war eine Eisprinzessin.
Ihr perfektes Lächeln sah auf jedem Bild gleich aus. Nichts wies auf ihre Situation Zuhause hin. Nur wer genau hinschaute, sah mal kleine Wunden in ihrem Gesicht oder an ihrem Armen. Sie waren klein, fast unsichtbar, aber sie waren da.

Wortlos reichte ich das Buch an Grace weiter. Ihre braunen Augen wanderten zu Sam, welche starr auf den Tisch schaute. Sie zog ihre kleine Nase kraus, dann legte sie das Buch mit so viel Schwung auf den Tisch, dass die vollen Wassergläser umkippten. Sie stießen gegen das Buch, kippten um und das Wasser breitete seinen Weg aus. Hannah schrie genauso geschockt auf wie alle anderen. Panisch sprang die Blondine auf und wollte das Buch ergreifen, doch es war zu spät: Das ganze Wasser durchnässte das Papier und eine Seite nach der anderen wurde zerstört. „Scheiße, scheiße, scheiße. Kannst du nicht aufpassen, du Trampel", herrschte Hannah Grace an, welche uns alle geschockt ansah. „Das war keine Absicht. Wirklich. Das müsst ihr mir glauben. Ich wollte es doch nur ablegen! Es tut mir so unendlich leid." Grace sah uns alle mitgenommen an. Ihre Hände wühlten Taschentücher hervor und rubbelten auf den Seiten herum, wodurch das weiche nasse Papier zerriss. „Lass das. Du machst es nur noch schlimmer", schluchzte Hannah und entriss es der Braunhaarigen, welche ihr wortlos die Tücher reichte. „Es tut mir so leid, Sam. Du konntest es dir ja nicht einmal anschauen." Grace sah kleinlaut zu dem Geburtstagskind rüber. Diese machte eine wegwerfende Handbewegung, wobei ich mir nicht so sicher war, ob sie überhaupt irgendwas mitbekommen hatte. „Ehrlich Hannah. Es war keine Absicht", versuchte es Grace nochmal, nachdem Hannah das Buch wütend in den Mülleimer gepfeffert hatte. Sie atmete tief durch, dann lächelte sie leicht. „Ich weiß. Sowas kann ja mal passieren", meinte sie und lächelte leicht gezwungen.
Beide nickten sich kurz zu, dann reichte Leon sein Geschenk an Sam. Während sie langsam auspackte, beugte sich Diego zu mir rüber. „Was schaust du so nachdenklich. Hast du Blähungen", feixte er und stieß mich unsanft an. Irritiert schüttelte ich den Kopf. Diese ganze Szene eben verwirrte mich. Irgendwas war so falsch, aber ich wusste einfach nicht was es war. Die Antwort lag so greifbar vor mir, aber ich erreichte sie nicht.
Dieses Buch.
Diese alten Bilder.
Die alte Sam.
Das Wasser.
Die Entschuldigung.
Wo war nur der Fehler. Nachdenklich stützte ich mich auf meinen Arm und dachte angestrengt nach. „Ehrlich Mann. Was bedrückt dich? Du siehst etwas angestrengt nach", bohrte Graces Freund weiter nach. „Diese Situation eben. Da war irgendwas falsch dran." „Wieso denn? Grace hat sich doch entschuldigt", erwiderte er leichthin. Abrupt hob ich den Kopf. Wir beide sahen uns einen Augenblick an und in diesem Moment hatte ich die Antwort. „Grace entschuldigt sich nie!"

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