28 Kapitel

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Samantha P.o.V.

„Manchmal triffst Du Entscheidungen im Leben... und manchmal wird für Dich entschieden."
Tief in Gedanken versunken lag ich auf meinem Bett und bekam nur mit halben Ohr mit, wie die Cellistin in dem Film Wenn ich bleibe mit ihrem Leben kämpfte. An ihrer Stelle hätte ich mich sofort für den Tod entschieden, aber sie konnte sich einfach nicht entscheiden. Mein Gott. Wenn sie sterben würde, wäre es nicht einmal Selbstmord gewesen. Sie wäre schlichtweg an den Folgen eines grausamen Unfalles gestorben. Ihre Eltern lebten nicht mehr, was mit ihrem Bruder passiert war, hatte ich wieder vergessen. Meine Gedanken waren ganz woanders. Wo genau sie festhingen, wusste ich nicht. Meine Konzentration war einfach auf dem Nullpunkt. Alles ging zu einem Ohr rein und wieder raus. Dementsprechend machte ich den Film jetzt aus und starrte auf den Sperrbildschirm meines Laptops. Der blaue Standortbildschirm strahlte mir entgegen. Ich hatte selten ein Bild oder eine Zeichnung als Hintergrund gehabt. Das Bild von Basti und mir, wo wir als Kinder auf einer Rutsche saßen, hatte ich an dem Tag weggenommen, als er mich zurückgelassen hatte. Freunde, Haustiere oder zeichnerisches Talent hatte ich alles nicht, deshalb war nie ein anderes Bild in Frage gekommen. Hannah zählte nicht. Wir hatten ja eine on-off-Freundschaft gehabt, welche immer nur Phasenweise hielt.

Ich richtete mich auf und lehnte mich gegen die Wand. Den Laptop legte ich auf meinen Schoß und öffnete in Zuge einer Eingebung Skype.
Ganz Oldschool. 
Auf gut Glück suchte ich Lucas raus und klickte auf Anrufen. Wenn er mich schon auf WhatsApp nicht beachtete, musste ich es eben hier probieren. Das es der richtige Lucas war, hatte ich anhand des Namens und Bildes gesehen. Es gab wenige Lucas Night auf der Welt und noch wenigere hatten als Kinder eine runde rote Brille gehabt. Er hatte sein Bild wohl im letzten Jahrhundert das letzte Mal aktualisiert. Zu meiner größten Überraschung nahm der vermeintliche Bad Boy tatsächlich nach einigen vergeblichen Anrufen ab. Verschlafen blickte er in die Kamera.
„Sam?" Seine Augen weiteten sich vor Unglauben und er wurde schlagartig wach. „Ist etwas passiert?" Es war eine Menge passiert, doch ich schüttelte bloß den Kopf. „Weißt du eigentlich wie verwirrt ich war, als mein Laptop auf einmal anfing so komische Geräusche zu machen? Ich wusste nicht einmal mehr, dass Skype noch existiert." Er kniff die Augen zusammen und gähnte wie ein Nilpferd. Ich hatte ihn anscheinend mitten in der Nacht geweckt. Zeitverschiebung war noch nie meine Stärke gewesen.

Ich wollte gerade wieder auflegen, da er unterbrach er mich gähnend: „Alles gut. Jetzt bin ich eh wach." Seine Augen starrten angestrengt auf den hellen Bildschirm. Stumm beobachteten wir beide uns.
Keiner von uns wagte es den ersten Schritt zu machen.
Keiner von uns wollte diese Stille durchbrechen.
„Du siehst nicht so aus, als wäre alles in Ordnung." Seine raue Stimme ließ mich zusammenzucken. „Was beschäftigt dich, Sam?" Seine Augen sahen mich so unheimlich sanft an. Eine Gänsehaut bildete sich auf meiner Haut und ließ mich erzittern. Er betrachtete mich mit einer extremen Ruhe. Erst als etwas von meiner Wange tropfte merkte ich, dass ich weinte. „Sam..." Seine Stimme schoss in die Höhe. Salzige Tropfen landeten auf meinen spröden Lippen und ließen diese brennen. „O Gott Sam!" Hilflos starrte er mich an. Immer mehr Tränen rannten auf meinen Wangen um die Wette.
„Kann ich irgendetwas für dich tun?" Verzweifelt rutschte er hin und her. Sein Gesicht näherte sich immer mehr der Kamera.
Als wenn er durch die Kamera zu mir kommen könnte.
Leider war dies nicht möglich.
Leise weinte ich vor mich hin. Ich fühlte mich so ausgelaugt. Mein sorgsam errichteter Damm brach in sich zusammen. Mal wieder. Lucas blieb nichts anderes übrig, als mir beim Weinen zuzusehen. Je mehr er sagte, desto mehr weinte ich.
Gott, ich hasste meine Gefühle.
Ich fühlte mich wie eine schwangere Frau, welche in ihre Wechseljahre kam und gleichzeitig ihre Periode hatte. Warum genau ich hier wie ein kleines Baby flennte, wusste ich nicht. Die Tränen kamen einfach und wollten nicht versiegen. Hilflos sah der Junge mich durch die Kamera an. Einmal wollte er mir sogar Taschentücher reichen, aber leider waren wir mehrere tausend Kilometer voneinander getrennt. Und Taschentücher könnte man nicht durch die Kamera weitergeben.

So kam es, dass ich schluchzend da saß und die Zeit einfach nur verging. Mir tat es Leid, dass ich ihn um seinen Schlaf brachte. Statt zu schlafen durfte er sich mein Geheule antun. Das nannte ich mal eine gelungene Nacht. Andere feierten die Nächte durch oder schliefen und er durfte sich das Geflenne eines Kleinkindes antun. So hatte er sich diese Nacht sicher nicht vorgestellt.
Aber auch meine Tränen hörten irgendwann mal auf zu fließen. Aus dem Wasserfall wurde erst ein Fluss und dann ein kleiner Rinnsal. Alles besser als die Niagarafälle.
„Also Sam, was ist los? Und jetzt sag nicht, dass alles in Ordnung wäre", wies er mich zurecht. Kleinlaut schnäuzte ich meine Nase und schaute ihn dann verlegen an. „Sam...." „Du fehlst mir, du Arsch", brach es aus mir raus. Während mich Lucas anschaute, als sei ich ein Alien mit drei Köpfen und fünf Titten, begannen die Tränen sofort wieder zu fließen. „Du fehlst mir. Wieso bist du nicht hier", wimmerte ich leise in mein Taschentuch hinein. Verzweifelt schaute ich den Bildschirm an. So unfair mein Vorwurf auch war, es war die Wahrheit. Lucas fehlte mir und irgendwie hatte ich das Gefühl, dass ich von Tag zu Tag immer mehr innerlich zerbrach.
Er war mein Fels in der Brandung gewesen.
Er hatte mich vor dem Ertrinken gerettet.
Nun hatte eine riesige Welle mich erfasst und mich mehrere Kilometer weit weg von diesem Felsen weggeschleudert. Nichtschwimmer waren nicht für das offene Meer gemacht. Sie waren dazu verdammt qualvoll zu ertrinken. Die Haie im Meer nagten an ihnen und spielten mit ihrer zappelnder Beute. Es war nur eine Frage der Zeit, bis sie mit dem Überlebenskampf aufhörten und sich in die Tiefe zerren ließen. Fehlte der Fels, kam der Moment schneller als einem lieb war. Und die Tiefe des Meeres waren dunkel und einsam.

Broken InsideWo Geschichten leben. Entdecke jetzt