19 Kapitel

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Lucas P.o.V.

Wie so oft wünschte ich mir, ich hätte was getan. Meine Gedanken ließen mich einfach nicht in Ruhe. Sie spielten mit mir, verdrehten meine Realität und ließen mich abends mit quälenden Schuldgefühlen stundenlang wachliegen.
Ich hätte handeln sollen.
Ich hätte handeln sollen, als ich den Zettel fand.
Ich hätte handeln sollen, als ich sie aufgelöst bei mir traf.
Ich hätte handeln sollen, als ich sie das erste Mal gesehen hatte.
Ich hätte handeln sollen.
Butterfly-Effekt. Vielleicht wäre für sie eine Menge anders gelaufen, hätte ich sie früher anders behandelt. Vielleicht hätte ein simples ‚Hallo' von mir, ihre Welt schon komplett verändert. Doch wie sagte meine kleine Schwester immer so schön: „Hätte, hätte Fahrradkette."
Ich konnte in meinem Kopf das Geschehene noch so oft durchlaufen lassen, es würde sich nicht verändern. Ich hatte damals so gehandelt, wie ich gehandelt habe. Ende. Die Vergangenheit kann man nicht verändern, egal wie verzweifelt man es versuchte. Die Gegenwart konnte man beeinflussen, während man die Zukunft formen konnte. Es war wie verhext.

Gedankenverloren strich ich durch die weichen Haare meiner Schwester. Meine Eltern waren ausnahmsweise mal nicht geschäftlich unterwegs, sondern feierten ihr Jubiläum. Welches genau, wusste ich nicht. Auf jeden Fall führte mein Vater meine Mutter aus und ich hatte mich dazu bereiterklärt auf meine Schwester aufzupassen. Die Überraschung meiner Eltern war nicht zu übersehen gewesen, doch sie hatten es dankbar angenommen. Und da ich ein lieber Bruder war, hatte Sally mit mir einen Film schauen dürfen. Und noch einen. Und noch einen. Inzwischen war sie im Tiefschlaf angekommen. Ihr kleiner Kopf lag auf meinen Beinen, während sie mit ihren zarten Armen eine Wolldecke umklammerte. Ihr zierlicher Körper hob und senkte sich regelmäßig. Lächelnd fuhr ich weiter durch ihr Haar. Früher hatten wir selten Zeit miteinander unternommen, doch inzwischen klebten wir regelrecht aneinander. So auch jetzt. Den Film hatte ich schon lange auf ganz leise gestellt. Die Geschichte von Sid, Manni und Diego kannte ich eh schon auswendig.

Müde lehnte ich mich zurück. Aufstehen konnte ich nicht, da ich dann den kleinen Engel wecken würde. Also musste ich wohl oder übel das Opfer bringen und hier auf den Couch schlafen. Hauptsache war, dass ich schlief, wenn meine Eltern kamen. Die würden es nämlich gar nicht toll finden, dass die Kleine so lange wach bleiben durfte. Aber wer konnte bei einem Hundeblick schon ‚nein' sagen? Ich ganz bestimmt nicht!
Ich genoss die Zeit mit meiner kleinen Schwester und versuchte regelrecht, die verlorene Zeit wieder nachzuholen. Dies fand sie nach anfänglicher Skepsis fantastisch und so waren wir schon mehrmals im Zoo und im Zirkus gewesen. Natürlich haben wir auch heimlich McDonalds einen Besuch abgestattet und wenn ihre Freundinnen mal zu Besuch kamen, nahm ich mir nun auch öfter die Zeit und spielte mit ihnen. Das hatte allerdings den Grund, dass ich nicht mehr im Schlaf von den Bestien geschminkt werden wollte. Wasserfeste Mascara lässt sich nur sehr schwer aus den Augenbrauen rauswaschen. Und roter Lippenstift von den Augenlidern zu bekommen, war auch ein Akt gewesen.
Durch unsere gemeinsamen Zeiten, hatte ich aber auch bemerkt, dass meine kleine Schwester sehr schlau war. Ich würde sie sogar schon als hochintelligent betiteln, doch meine Eltern stritten dies vehement ab. Sie begründeten ihre Argumentation auf den schlechten Noten meiner Schwester. Da ich allerdings im Internet gelesen hatte, dass hochintelligente Kinder sich häufig langweilten, machte ich mit Sally oft Matheaufgaben aus höheren Klassenstufen. Und sie konnte alles. Vielleicht hatte sie deshalb schon vor allen anderen bemerkt, dass Sam gelitten hat. Sie war einfach schlauer als der Rest der Menschen in ihrem Umfeld.
Mein Ziel war es jedenfalls, einen hochbegabten Test mit ihr beim Arzt zu machen. Erst danach würde ich mit meinen Eltern darüber reden. Wenn sie es schwarz auf weiß hätten, würden sie mir Glauben schenken.

Ich gähnte erneut und versuchte, ohne meine Schwester zu wecken, die rote Decke vom anderen Sofaende zu nehmen. Vorsichtig streckte ich mich und angelte mir einen Deckenzipfel. Mit einem lauten Plumps fiel der weiche Stoff zu Boden, wobei ich den Zipfel im letzten Moment noch greifen konnte. Meine Brust lag nun auf dem Kopf meiner Schwester, doch sie schien es nicht mal zu bemerken. Ich quetschte ihr ja nur gerade den Kopf ab. Leise lehnte ich mich zurück, deckte sie sanft zu und begann wieder mit ihren Haaren zu spielen.
Meine Gedanken wanderten wieder zu Sam. Hoffentlich ging es ihr aktuell besser als hier. Sie antwortete kaum noch auf WhatsApp und wenn ich mal ein Lebenszeichen von ihr bekam, war es ein Video auf Snapchat. Noch hatte ich ihren Bruder nicht angeschrieben, aber vielleicht würde ich dies mal tun.
Ich mache mir Sorgen um die kleine Blondine. Ihre Welt war komplett zerstört.
Kein normaler Mensch konnte die Scheiße problemlos überleben, die sie erlebt hatte.

Broken InsideWo Geschichten leben. Entdecke jetzt