29 Kapitel

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Samantha P.o.V.

Damon war weg. Heute morgen hatte er seine Sache gepackt und war nach Hause geflogen. Er hatte extra den letztmöglichen Flug genommen, aber trotzdem war er verschwunden. Die Wohnung war seltsam leer ohne ihn. Das er heute Abend bei seiner Familie sein wollte, konnte ich gerade so verstehen. Ich hatte Heiligabend immer gehasst, aber das lag einfach nur an meinem Vater. Heute war Weihnachten zum ersten Mal ohne ihn. Freuen konnte ich mich trotzdem nicht. Ich war davon ausgegangen, Weihnachten mit Damon und Basti alleine zu verbringen. Selbstsüchtiger Gedanke, aber ich konnte nichts dafür. Ich hatte mich einfach an die beiden gewöhnt. Stattdessen war Damon bei sich Zuhause und Basti hatte mir eröffnet, dass wir Weihnachten mit der Familie seiner Freundin verbringen würden. Seine Freundin, die ich nur ein,al gesehen hatte. Traumhaft.

Er war schon total aufgeregt. Wie ein kleines Kind wuselte er durch die Wohnung und konnte sich nicht entscheiden, was er jetzt anziehen sollte. Ich dagegen saß auf meinem Bett, betrachte mich im Spiegel und begann akribisch meine Narben abzudecken. Immer mehr Make-Up fand den Weg in mein Gesicht, doch es half nicht. Die kleinen feinen Striche ließen sich abdecken, doch die fette Narbe begann regelrecht zu brennen, so bald ich was rauf klatschte. Trotzdem machte ich weiter. Den Krater konnte ich nicht beseitigen. Dafür müsste ich Latex verwenden und den besaß ich selbstverständlich nicht. Dementsprechend konnte ich der Narbe nur die rötliche Farbe und ein bisschen das Grauen entnehmen.
Mehr bekam ich nicht hin. Ruhig betrachte ich mich im Spiegel. Ich sah gut aus. Keine Falte, keine Gesichtszüge, nichts war zu erkennen. Mein Gesicht war eine reine Maske. Anfangs hatte ich große Probleme gehabt, meine Narben zielgenau abdecken zu können. Inzwischen klappte es recht gut. An die Augen traute ich mich nicht, aber die würde ich eh hinter meiner Brille verstecken. Mithilfe meines Lockenstabs formte ich große Wellen und festigte meine Haare dann mit Haarspray. Da ich rechts eh nichts sehen konnte, ließ ich die Locken über mein halbes Gesicht fallen. Ein paar Haarspangen hielten einige Locken zurück. Zufrieden lächelte ich. Meine Narbe konnte man nicht mehr wirklich sehen. Zwar sah ich wie ein blonder Emo oder ein anderes u soziales Wesen aus, da man mein Gesicht nicht wirklich sehen konnte, aber das interessierte mich nicht. Schwarze Stiefel mit fünf Zentimeter Absatz, enge dunkle Jeans und ein grauer Kaschmirpullover zierten meinen Körper.
Anmutig drehte ich mich. Ja, so konnte ich mich sehen lassen. Nichts deutete auf die arme kleine Schwester von Basti hin, welche ein grausames Leben geführt hatte.

Mein Bruder war natürlich nicht geschminkt. Trotzdem war er immer noch nicht fertig mit seinem Outfit.
Jungs.
Atemlos starrte er mich an. „Du trägst Make-Up für uns beide. Meinst du nicht, dass das etwas zu viel ist", nuschelte er, während er verbissen seine Krawatte band. Ohne Spiegel klappte dies natürlich nicht. Wortlos trat ich vor, löste seine Finger von dem missratenen Knoten und band ihn sorgfältig neu. Am liebsten hätte ich die Krawatte mal so richtig fest gezogen, einfach nur weil er mich heute mit sich zerrte. Ich ließ es aber.
„Danke Sammy. Was würde ich nur ohne dich machen", seufzte er erleichtert und zupfte sein hellblaues Hemd zurecht. Tja, er hatte jahrelang ohne mich überlebt. Ich würde sagen, dass diese Frage absolut unnötig war. Ich ergriff meinen Mantel und meine Handtasche. Abwartend beobachtete ich, wie mein Bruder weiterhin durch die Wohnung hetzte. Immer wieder rannte er zurück. Erst hatte er sein Handy im Wohnzimmer liegen gelassen, dann trug er sich noch sein stinkendes Rasierwasser auf. Fast hätte er sich mein Rosenparfüm gegriffen, doch er bemerkte es nach dem ersten Spritzer. Der süßliche Geruch hing jetzt in der Luft und ließ mich allmählich keine Luft mehr kriegen. Deo, Parfüm, Rasierwasser. Die Wohnung stank bestialisch. Das schien auch mein großer Bruder einzusehen. Hektisch griff er nach den Autoschlüssel und wir verließen endlich die erdrückende Wohnung.

Im Auto atmete er tief durch. „Wie sehe ich aus", fragte er mich und sah mich panisch an. Genervt verdrehte ich die Augen, wandte mich ihm zu und zeigte leicht lächelnd den Daumen hoch. Erleichtert sackte er ihn sich zusammen. „O man. Ich bin so aufgeregt. Endlich lernst du Sonja kennen. Also so richtig. Und ihre Eltern wirst du lieben. Ihre Mutter macht den besten Gänsebraten der Welt." Er kam gar nicht mehr aus dem Schwärmen raus. Die ganze Autofahrt erzählte er mir, wie toll die Familie sei. Je mehr er redete, desto wütender wurde ich. Während er die letzten Weihnachtsfeste genossen hatte, musste ich diese mit unserem Vater überleben. Ich hasste Weihnachten. Heiligabend war der Tag gewesen, wo mein Vater mich noch mehr unter Druck gesetzt hatte. Ich musste perfekt sein.
Doch ich war es nie.
Dagegen hatte mein Bruder unbeschwerte Weihnachtsfeste erlebt und nicht einmal an mich gedacht. Er erzählte mir von seinem Geschenk an Sonja und ließ durchsickern, dass ich mein Geschenk erst in ein paar Tagen erhalten würde. Das seine Freundin wichtiger als ich war, machte mich nicht einmal mehr wütend. Ich hatte schließlich auch keine Geschenke besorgt. Mein Vater und ich haben uns nie etwas geschenkt. Ich konnte mit den bunten Päckchen nichts anfangen. Mein einziger Wunsch hatte sich nie erfüllt. Als ich irgendwann verstanden habe, dass meine Mutter nicht wieder kommen würde und das der Weihnachtsmann nicht existierte, habe ich mir nicht mehr die Mühe gemacht, mir was anderes zu wünschen. Stattdessen habe ich angefangen, mir selber einen Adventskalender zu gestalten. Jeden Tag eine neue Wiskeyflasche aus der teuren Sammlung meines Vaters. Am ersten Weihnachtsfeiertag ist ihm das dann auch mal aufgefallen und so bekam ich doch noch meine Geschenke: Prügel, Schläge und Schimpftiraden. Wir beide haben jedoch nie aus den Fehlern gelernt und so hatte sich dieses Prozedere jedes Jahr wiederholt. Ich glaube, dass letzte Mal war ich vor vier Jahren zur Weihnachtszeit nüchtern gewesen. Ungewohnt es jetzt auch zu sein.

Broken InsideWo Geschichten leben. Entdecke jetzt