Samantha P.o.V.
Lucas hatte ein scheiß Timing. Ich wollte gerade die Rasierklinge, welche ich vor einigen Tagen aus Lilys Badezimmer hatte mitgehen lassen, über meinen Arm streichen, als der Sack mich anrief. Frustriert prustete ich mir eine Haarsträhne, die sich aus dem Pferdeschwanz gelöst hatte, aus meinem Gesicht und legte die Klinge auf das Waschbecken. „Hm", grummelte ich in das Handy rein. Es war abends, ich hatte miese Laune und wollte meine Ruhe haben. „Alles okay bei dir", schrie er fast in den Hörer. „Soll ich vorbeikommen?" Vorbeikommen? Ja ne, ist klar. Mal eben über den Ozean springen und an meiner Tür klingeln war leider nicht möglich.
„Was", stieß ich entnervt aus und ergriff die Klinge. Vorsichtig hielt ich das Handy in der einen und die Klinge in der anderen Hand. „Grace meinte, dass bei dir was passiert sei....", gab er etwas verunsichert, aber ein Glück leiser von sich. Augenverdrehend öffnete ich die Tür und schielte in den Flur. Leere.
Perfekt.
Hastig huschte ich in mein Zimmer, schloss die Tür und setzte mich auf mein Bett. „Sam?" „Moment." Meine Stimme klang kälter als beabsichtigt, aber damit musste der Herr jetzt leben. Ich kramte eine Tamponpackung aus meiner Schultasche hervor und schob die kleine Rasierklinge darein. Da würde kein Typ freiwillig danach suchen.„Also. Was ist los", versuchte er sein Glück erneut. Das war genau das, was ich jetzt gebraucht habe. Nicht. Nach diesem scheiß Tag wollte ich einfach nur Ruhe haben, aber Grace hatte den Braten wohl gerochen.
Blöde Kuh.
Nachdem ich sie gekonnt ignoriert hatte, hatte sie Lucas auf mich angesetzt und wir wussten beide, dass er mich früher oder später weichkochen würde. Seitdem sie mir vor zwei Wochen das Paket geschickt hatte, war zu viel passiert. Je mehr passierte, desto mehr wollte ich meine Ruhe haben. Nur leider verstanden das die Menschen in meinem Umfeld nicht. Ich schrieb Klausuren, musste zur Therapie, die Jungs stritten nur noch, Sonja war jeden Tag bei uns und zu allem Überfluss, war heute der erste Termin beim Gericht gewesen. Zusammengefasst konnte ich somit sagen, dass mein Leben perfekt scheiße lief.
„Heute war der erste Termin." Stille. Ich konnte förmlich hören, wie sein Gehirn arbeitete. „Was für ein Termin", fragte er dann zögerlich. Ups. Er wusste davon ja nicht wirklich was. Rein zufällig war er mir entfallen, ihm davon zu berichten. Wütend auf die Welt, auf ihn und auf mich selbst schlug ich kurz auf mein Kissen, bevor ich tief durchatmete. „Längere Geschichte. Hast du kurz Zeit", überwand ich schließlich meinen inneren Schweinehund. „Für dich immer", antwortete er ohne zu zögern.
Süß, aber schade.
Das war es dann wohl mit meiner Ruhe. Schnell ratterte ich ihm das Geschehen der letzten Zeit herunter. Immer wieder gab er ein dumpfes Grunzen von sich. Ein bisschen erinnert er mich an Geralt von Riva aus der Netflix Serie The Witcher. Es fehlte nur noch, dass er leise vor sich hin fluchte. Allerdings befürchtete ich mit jedem „Hm" von ihm, dass mein Kopf gleich abgehackt werden würde. Und dieser Gedanke behagte mir überhaupt nicht. Mit jedem Satz wurde ich kleinlauter und die Wut verrauchte. Stattdessen kam die Angst vor seinem Ärger über mich.Nachdem ich geendet hatte, atmete er tief durch. Kurz dachte ich, er würde mich jetzt köpfen, vierteln, anschreien oder wahlweise umbringen wollen, doch er riss sich zusammen. „Okay. Ich nehme an, du hattest deine Gründe es mir nicht zu erzählen", begann er leicht pikiert. Ertappt schloss ich die Augen. Nein, ich hatte keine wirklichen Gründe. Genauer gesagt, wollte ich einfach nicht jeden mit meinen Problemen belasten und war froh darüber, dass ich mit ihm halbwegs normale Gespräche führen konnte. Aber dank dieser Gerichtssache konnte ich diese Gespräche nun auch in die Tonne treten. „Was kam heute beim Gericht raus", fragte er ruhiger weiter. „Nur Scheiße", knurrte ich und schlug nochmal auf das Kissen. Ich war es so Leid eine Schachfigur in meinem eigenen Leben zu sein. Andauernd entschieden fremde Menschen über mich und die Menschen, die mich kannten, schwiegen oder wussten alles besser. „So schlimm?" Sein Ärger war nun komplett aus seiner Stimme verschwunden und er klang eher besorgt. „Nächste Woche ist noch mal ein Termin. Damon und Basti haben beide die teuersten Anwälte der Welt auf ihrer Seite und streiten sich auf dem höchsten Niveau. Ein Glück kommen sie jeder aus einer reichen Familie, sonst könnten sie sich das nie leisten", schnaubte ich verächtlich. „Musstest du schon eine Aussage machen?" „Nächste Woche. Heute war ich stumm wie ein Fisch", gestand ich ein. Ich wollte ihm nicht unbedingt erzählen, dass ich bei meiner Aussage komplett verstummt war und einfach nur überfordert mit der Situation dagesessen hatte. Dementsprechend war der ganze Bockmist verschoben worden. Lisas Urteil lag zwar vor, aber die beiden Parteien wollten unbedingt meine Aussage vorm Richter haben.
„So schlimm", fragte er mitfühlend. „Selbst ein toter Fisch hätte mehr Laute von sich gegeben", gab ich unzufrieden mit mir selbst zu. „Eine Leichenstarre war nichts dagegen." Er schwieg. Ich merkte ihm an, dass er zu gerne den Grund gewusst hätte, doch ich schwieg. Ich hatte den Saal betreten, den Richter gesehen und wäre am liebsten rausgerannt. Seine Ausstrahlung war so energisch und bestimmend, dass er mich auf eine banale Art und Weise an meinen geliebten Vater erinnert hatte. Dazu kam die Testosteron geladene Stimmung zwischen den Jungs und ihren beiden muskulösen Anwälte und ich wäre nur zu gerne von der nächsten Klippe gesprungen. Leider hatte Lisa mich mit Argusaugen beobachtet.„Und wie geht es jetzt weiter?" Wieder schnaubte ich auf. „Wenn ich das wüsste", brummte ich. „Eins kann ich dir jedenfalls sagen: Irgendjemand wird mein Vormund und ich werde definitiv nicht meine Mündigkeit zurückkriegen." Bevor er in Verlegenheit geriet, redete ich weiter. „Das war mir aber klar. Meine Gedanken springen je nach Lust und Laune umher und machen was sie sollen. Alleine heute im Saal bin ich vor Angst gestorben. Ich habe ein Problem mit allem was lebt. Und dann gibt es Tage, da komme ich klar. Keine Ahnung, wie ich früher das durchgestanden habe." „Es kommt immer darauf an, ob man was erlebt und es wahrnimmt oder man es einfach nur überlebt und nichts an sich ranlässt. Du hast es halt irgendwann nicht mehr weghalten können. Aber mal ganz im Ernst", er legte eine kurze Pause ein und ließ seine Worte bei mir sacken. „Ich kenne niemanden, der das überhaupt so lange ausgehalten hätte." Toll. Wieso musste mir das jeder sagen?
Das hilft mir nicht.
„Du schaffst das, Sam. Ich weiß, dass sage ich jedes Mal, aber ich glaube fest an dich. Du bist alles Tolle dieser Welt und ich weiß, dass du auch das schaffen wirst." „Danke", wisperte ich. Ich hörte seine Worte, doch sie kamen nicht an. Andauernd sagten mir die Menschen sowas, aber ich glaubte ihnen nicht mehr. So viel Scheiße passiere mir und es war keine Besserung in Sicht. Allmählich reichte es mir. Mein Blick glitt zu meinem Portemonnaie und dem drin liegenden gefälschten Personalausweis. Abhauen oder doch einfach alles beenden? Oder sollte ich Graces und meine Idee umsetzen, meinen Tod vortäuschen und mich einfach aus dem Staub machen? Eins war mir jedenfalls klar: ich konnte einfach nicht mehr.
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Broken Inside
De TodoSamantha ist gefallen. Ohne Lucas hat sie ihren Halt im Leben verloren. Er war ihr Fels in der Brandung und hat sie vorm Ertrinken gerettet. Doch nun ist er nicht mehr da. Der Umzug nach England hat sie vollkommen aus der Bahn geworfen und nun versi...