15 Kapitel

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Samantha P.o.V.

Sorgfältig schloss ich die Tür ab und sank augenblicklich zu Boden. Der Tag war anstrengend gewesen, zu anstrengend. Andauernd hatte mein Bruder versucht mit mir zu reden. Mein Gehirn ackerte von früh bis spät und sortierte Freund und Feind. Inzwischen wusste ich selbst nicht einmal mehr, wer überhaupt noch zu meinen Freunden zählte. Ich weiß, ich könnte mit meinen Freunden aus Amerika über Handy Kontakt halten, aber das strengte mich extrem an. Ich hörte mir ihre Sprachnachrichten an, aber immer wenn ich mal mit einem Memo antworten wollte, löschte ich dieses wieder. Ich bekam kein Wort über die Lippen. Ich fühlte mich wie ein Mensch, welcher nichts zu sagen hatte,
Wie ein Niemand.
Und so kam es, dass ich kaum noch antwortete. Was sollte ich ihnen auch erzählen? Während sie alle eine tolle Vorweihnachtszeit hatten, hatte ich nichts. Damon und Basti waren mit lernen beschäftigt. Die hatten mit großer Wahrscheinlichkeit vergessen, dass Weihnachten überhaupt existierte. Mich störte es wenig, da ich schon seit Jahren kein Weihnachten mehr gefeiert hatte. Mich störte es eher, dass ich nichts zu erzählen hatte.

Auch jetzt stellte ich mich wieder vor den Spiegel und versuchte zu reden. Es klappte nicht. Ich öffnete meinen Mund, bewegte meine Zunge aber kein Ton verließ meine aufgerissenen Lippen. Ich fühlte mich wie eine verdammte Puppe. Selbsthass überrollte mich.
Was konnte ich eigentlich?
Atmen.
Für was war ich überhaupt noch gut?
Für nichts.
Schwertatmend beugte ich mich vor, stützte meine Hände auf das Waschbecken und betrachtete mein blasses Gesicht im Spiegel. Ich sah einfach nur unmenschlich aus. Wie eine Horrorpuppe. Der große Unterschied war nur, dass Horrorpuppen wenigstens einen Schrei von sich geben konnten. Ich konnte sowas nicht.

Am liebsten hätte ich mir meine Narben mit einem scharfen Messer aus dem Gesicht geschnitten, so sehr störten sie mich heute. Ich war einfach nur hässlich!
Hässlicher als vorher zum mindestens.
Stattdessen drehte ich mich um, zog mich komplett aus und ergriff eine Rasierklinge. Mein Körper hatte schon genügend Narben, da machten zwei oder drei Narben auch keinen großen Unterschied mehr. Leichtfüßig ging ich in die Dusche und nahm den Duschkopf aus seiner Verankerung. Damit die Jungs keinen Verdacht schöpften, drehte ich das Wasser auf und fixierte den Duschkopf mit meinen Füßen auf den Boden, nachdem ich mich hingesetzt hatte. Das warme Wasser rauschte in die kleine Duschwanne, nur um dann direkt im Abguss zu verschwinden. Nachdem ich es mir gemütlich gemacht hatte, nahm ich die Klinge in die rechte Hand, warf mein Haar nach hinten und fixierte meinen linken Unterarm. Die Stellen vom letzten Mal waren schon recht gut verheilt, doch heute waren sie mir ein Dorn im Auge.
Schmerz verlangt gespürt zu werden.
Wie recht Hazel Grace doch damit hat. Zwar verstand sie unter Schmerz einen anderen Schmerz als ich, aber es war mir egal. Genau wie es mir auch egal war, dass ich Ritzen vor einigen Monaten noch als sinnlos empfunden hatte. Aktuell hatte es eine beruhigende Wirkung auf mich.

Ich setzte die Klinge an und zog sie fast schon andächtig über meine Haut. Der kleinste Kontakt reichte aus und die scharfe Kante erfüllte ihren Zweck perfekt. Ein Prickeln breitete sich in meinem Arm aus und Blut quoll aus der feinen Wunde hervor. Kurz keuchte ich auf, dann setzte ich zum nächsten Schnitt an, welcher tiefer wurde. Dickflüssiges rotes Blut schoss hervor und das Wasser begann sich rasend schnell rot zu färben. Tränen schossen mir in die Augen, doch ich ignorierte es. Ich fühlte es. Ich spürte den Schmerz. Es war wie eine Droge. Die erste Dosis haute so richtig rein, doch kam konnte nicht genug davon bekommen. Ein kleiner Teil in meinem Unterbewusstsein schrie protestierend auf, als ich zum dritten Schnitt ansetzte.
Aber alle guten Dinge waren doch drei, oder?
Drei ältere und zwei neue Schnitte waren bislang zu sehen. Den letzten Schnitt zog ich einmal schräg durch alle Wunden durch. Schmerzerfüllt krümmte ich mich zusammen, doch dann atmete ich erlöst auf. Das Blut verfärbte das Wasser nur noch mehr. Meine Beine hatten eine rötliche Farbe durch die Flüssigkeit angenommen und auch die ehemals weiße Wanne war rosa. Metallischer Geruch hing in der Luft. Kurz hielt ich inne und genoss den Rausch. Nachdem ich die Klinge gereinigt und vor der Dusche deponiert hatte, erhob ich mich. Andächtig wusch ich das Blut von meinem Körper und verzog jedes Mal das Gesicht, wenn der Wasserstrahl meine Wunden traf.
Sorgfältig reinigte ich die Dusche mit meinem Shampoo, so dass das ganze Bad nach Granatapfel roch. Nun konnte man nichts mehr von dem Blut sehen oder riechen. Der gekippte Fenster ließ den Geruch sich eh schnell verflüchtigen. Die Rasierklinge trocknete ich ab und verstaute sie mitten in einer Tampon Verpackung. Diese stellte ich sorgfältig verschlossen wieder zurück. Da ich eh keine Tampons aktuell benutzen musste, würde die Packung da noch eine Weile stehen.

Nachdem ich die Wunden sorgfältig desinfiziert und verbunden hatte, zog ich mir einen weiten Pullover mit engem Bund am Ärmelende und eine Jogginghose an. Dann verließ ich leise auf nackten Sohlen das Bad. Eigentlich wollte ich sofort ins Zimmer gehen, doch ein Gespräch aus dem Wohnzimmer ließ mich innehalten.
"Seit wann bist du denn ein Psychologe?" Mein Bruder klang gereizt. Das Gespräch war wohl schon seit einiger Zeit im Gang. "Gar nicht. Das weißt du genauso gut wie ich." Damon dagegen klang eher gutmütig. Oder müde. Auf jeden Fall ruhiger. Leise trat ich näher den Raum heran.
"Ich vertrete bloß die Ansicht, dass du deine Schwester nicht so bedrängen sollst!"
"Wo bedränge ich sie bitte?!"
"Du erwartest andauernd, dass sie dir antwortet. Mündlich. Aber so einfach ist das nicht! Sie ist schwer traumatisiert. Sowas verschwindet nicht von heute auf morgen."
"Ich weiß!" Der verzweifelte Ton meines Bruders ließ mich aufhorchen. "Ist es so schlimm, dass ich einfach nur ihre Stimme wieder hören will? Ich möchte doch nur, dass sie glücklich ist. Mehr nicht! Und ich kann es halt nicht nachvollziehen, dass sie mir erst alles erzählt und dann auf einmal verstummt."
Damon seufzte laut. "Ich verstehe dich, aber ich kann dir keine Lösung liefern. Ich vermute einfach, dass danach irgendwann ein Punkt kam, wo die ganze Realität auf sie einbrach. Irgendwas ist passiert. Ihr Gehirn hat die ganzen Informationen auf einmal verarbeiten müssen und es gab eine Art Kurzschluss. Anders kann ich es mir nicht erklären. Das menschliche Gehirn ist viel zu komplex und basierend auf ihren Erfahrungen, kann eine Menge in ihr vorgegangen sein."
Damon redete weiter, doch ich hörte ihm nicht mehr zu. Ihr Vortrag über ihre eigenen Fehlentscheidungen mit der Party und über meine Probleme perlte an mir ab. Ruhig stand ich da. Mein Bruder wollte meine Stimme hören. Wie gerne würde ich ihm diesen Wunsch erfüllen, aber sobald ich meinen Mund öffnete, verließ kein Laut meine rissigen Lippen. Es war für ihn so, als wäre ich stumm. Mir war, als hätte ich verlernt zu reden.

Broken InsideWo Geschichten leben. Entdecke jetzt