52 Kapitel

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Grace P.o.V.

„Grace, Schatz. Bitte setze dich gerade hin."
„Darling. Nicht so schlingen. Es ist genügend Essen für uns alle da."
„Willst du wirklich noch mehr essen? Nicht das du noch dicker wirst!"
„Grace. Was habe ich dir zu deiner Körperhaltung gesagt? Ellenbogen an den Körper, Kopf aufrecht, Rücken gerade."
„Hör doch endlich auf zu schmatzen! Du bist kein Kind mehr."
„Finger weg vom Fleisch! Du hast eh schon ordentlich zugenommen. Ab morgen gibt es nur noch vegetarische Speisen."

Kotz, würg. Vegetarisch. Da könnte ich mich auch gleich erhängen. Würde meiner Stiefmutter sicherlich gefallen, wobei selbst dann würde sie was zum Meckern finden. Veronika, alias der Teufel, saß mir mit kritischem Blick gegenüber. Sie könnte glatt als Schneewittchen durchgehen. Lange schwarze Haare, volle rote Lippen und perlweiße Haut. Einfach ein Traum. Äußerlich. Innerlich glich sie eher der bösen Stiefmutter. Steile Falte über der Stirn vom ständigen kritisieren und einen Charakter wie ein vergifteter Apfel. Leider war ihre äußere Schicht echt. Kein Botox oder sonstige Chemikalien hatten ihre Haut je berührt. Sie verwöhnte sich mit Naturprodukten erster Klasse, kostenintensiven Naturkuren am Meer und ab und an wagte sie auch noch einen Seitensprung zu unserem Nachbarn ins Bett. Nur fürs Seelenwohl versteht sich.
Ihr Inneres musste allerdings in jungen Jahren eintausend Liter giftige Chemikalien und Reinigungsmittel abbekommen haben, denn selbst Maleficents verzauberte Spule oder der vergiftete Apfel hatten mehr Charme als diese Hexe.
Warum mein Onkel an sie geraten war, fragte ich mich heute noch. Warum sie an ihn geraten war eher weniger. Geld, hohes Ansehen, Einfluss, Gutmütigkeit. Alles Pluspunkte. Leider hatte er damals mich als Anhängsel mitgebracht. 

Seitdem sie hier lebte, war es die Hölle auf Erden. So eine Samantha, die Eisprinzessin, hätte ihr sicher besser gefallen. Jung, blond, hübsch und sie machte alles was man ihr sagte. Eine kleine Spielpuppe halt. Ich dagegen war groß, dunkelhaarig, rauchte und hörte einen Scheiß auf diese Bitch! Ich wünschte, ich wäre adoptiert worden und sie würden mich zurückgeben, doch leider war dies nur ein anhaltendes Gerücht an der Schule. Das Stiefmonster hätte sicher eine ihrer legendären Partys mir zu Ehren ausgerichtet, hätte ich ihr verkündet, dass ich verschwinden würde. Doch das tat ich nicht. Ich musste bleiben. Ich meine, was für eine Wahl hatte ich auch schon? Sie waren die einzige Familie, die ich noch irgendwo auf dieser beschissenen Welt besaß.

„Grace, Liebes. Hast du dir es überlegt? Wirst du beim Schönheitswettbewerb teilnehmen", fragte sie mit einer perfekt hochgezogenen Augenbraue. „Wenn ich schwarz tragen, Linkin Park singen und als Talent rauchen darf, dann gerne", erwiderte ich entspannt, griff nach dem letzten Hähnchenstück und aß es provokant mit der Hand. Mein Onkel hustete leise auf. Mal schauen wann er sich einmischen würde. „Nein, nein und nochmals nein. Rauchen ist doch kein Talent", empörte sie sich und plusterte sich künstlich auf. Leider war sie dünn wie eine Bohnenstange. Eine Bohnenstange mit viel Holz vor der Hütte.
„Okay. Ich könnte auch zehn Bier nacheinander exen", schlug ich großzügiger Weise vor. Mein Onkel hustete erneut leise auf. „Grace Amelia. Sowas gehört sich alles nicht für eine Dame." Oh, ihre hohe Stimme schoss ein paar Oktaven in die Höhe. Jetzt bekam ich es mit der Angst zu tun. Nicht. Ich lächelte sie an, wischte meine fettigen Finger ab und beugte mich graziös über den Tisch um ihr in die Augen zu schauen. „Und was ist ein Talent für eine Dame, Mutter?" Verächtlich spuckte ich das letzte Wort aus, doch es entfiel ihr. „Singen, tanzen. Vielleicht auch ein Instrument spielen. Als ich jung war..."
Und damit geriet sie ins Schwärmen über ihre grandiose Kindheit. Mehrmalige Schönheitskönigin, Gewinnerin etlicher Preise. Diese Geschichten kannte ich schon. Also, ich hatte sie alle mal gehört und dann vergessen, weshalb ich nun einfach aufstand und das schnatternde Huhn zurückließ. Sie konnte bleiben wo der Pfeffer wächst.

Mit der Ruhe eines tobendes Sturms schritt ich in mein abgedunkeltes Zimmer, zog meine Sporttasche bevor und begann systematisch meine Sachen zupacken. Routiniert packte ich einen schwarzen Pullover, Unterwäsche und eine Jogginghose zu dem T-Shirt und den Hygiene Produkten.
„Du weißt, dass sie es nicht so meint, oder?" Verunsichert stand mein in die Jahre gekommener Onkel im Türrahmen. Tiefe Falten hatten sich auf seiner blassen Stirn gebildet, die grauen Haare fielen ungeordnet ins Gesicht. „Und du weißt, dass ich diese verblödete Scheiße hasse", erwiderte ich durch zusammengebissene Zähne und zog die Tasche kraftvoll zu. „Ja aber Grace...sie versucht nur Zeit mit dir zu verbringen", versuchte er die Situation mal wieder zu retten. „Nein, sie versucht mich zu verändern. Sie versucht mich zu einem Klon ihrer selbst zu machen." Energisch stiefelte ich an ihm vorbei, rempelte ihn an und marschierte zur Haustür. „Bis später dann." Auf dieses Theater hatte ich keine Lust.

Broken InsideWo Geschichten leben. Entdecke jetzt