Samantha P.o.V.
"Und wie fühlst du dich?" Die schlanke Frau musterte mich aufmerksam. Missmutig kritzelte ich auf meinen Zettel ein paar Worte. Mit ihrem grazilen Fingern griff sie nach diesen und laß die Wörter mit hochgezogenen Augenbrauen vor. "Schwanger. Müde. Bocklos." Das letzte Wort sprach sie wie Gift aus. Mit einer anmutigen Bewegung strich sie sich eine imaginäre Haarsträhne zurück und steckte diese in ihren perfekten Zopf, dann lächelte sie mich mit ihren strahlenden Zähnen an. Diese Frau sollte definitiv nicht die Psychologin für Menschen mit Magersucht oder anderen Selbstwahrnehmungsproblemen sein. Ehrlich, hätte ich irgendwelche Minderwertigkeitskomplexe, würde ich mich nach diesem Termin direkt von der nächsten Brücke stürzten.
Diese Option behielt ich mir nur vor, da mich dieses Treffen nervte. Mein Bruder hatte mich direkt nach der Schule hier her gezerrt, der Frau irgendwelche Sachen erzählt und mich nun alleine hier sitzen gelassen. Dr. Summers, doch für mich nur Lisa, erhoffte sich wohl Antworten aus meinem Mund.
Darauf konnte sie lange warten!"Wieso fühlst du dich bocklos", fragte sie nun mit sanfter Stimme und beugte sich leicht vor. Ich lehnte mich zurück. Diese Hexe sollte mir bloß nicht zu nahe kommen!
Als Antwort auf ihre Frage, zeigte ich auf mich, sie und den Raum. "Du siehst es also als unnötig an, hier zu sein", kommentierte sie meine Geste wenig begeistert. Nun hob ich eine Augenbraue. Was erwartete sie? Wieder starrten wir uns an. "Weißt du Sam, ich hoffe es ist ok, wenn ich dich so nenne, du musst auch mit mir sprechen", begann sie ihren Vortrag. Abrupt saß ich kerzengerade auf meinem Stuhl. Ich zuckte den nächsten Zettel und kritzelte ein paar Wörter drauf. Auch diese laß sie laut vor. "Samantha. Und ich spreche doch mit Ihnen!" Sie seufzte wieder. "Ok, Samantha. Du darfst mich duzen, das weißt du doch." Sie lächelte ein perfektes Lächeln. "Willst du mir denn was erzählen?" Augenverdrehend schrieb ich wieder auf den Zettel. "Mein Bruder hat Ihnen doch schon alles erzählt." Wieder lachte sie auf. "Nein, dass hat er nicht. Außerdem möchte ich Sachen von dir erfahren." Urg, sie sollte bloß nicht auf beste Freundin tun. Das waren wir definitiv nicht.
"Ok. Also ich heiße Samantha Duncan. Mein Vater ist/war ein Teufel. Das Ding in mir ist sowohl mein Geschwisterkind als auch mein eigenes Kind. Ich habe eine fette Narbe im Gesicht. Ich bin eine Behinderung für meinen Bruder. Ich will nach Hause. Ich verstehe den Sinn hier nicht!"Damit hatte ich definitiv alles gesagt. "Wieso denkst du denn, du bist eine Behinderung für deinen Bruder", fragte sie erstaunt. Nun lehnte ich mich zurück, schob den Unterkiefer vor und verschränkte die Arme vor meiner Brust. Sie war doch die Psychologin. Sollte sie doch die Antworten selbst finden.
"Ich glaube, nein ich weiß, dass er dich nicht als Behinderung ansieht. Ich macht sich einfach nur Sorgen um dich." Aufmerksam mustert sie mein ausdrucksloses Gesicht. "Das ist es, oder? Du bist es einfach nicht gewohnt, dass sich jemand um dich kümmert und sich Sorgen um dich macht!"
Wow, sie war gut.
Trotzdem blieb ich still da sitzen. Ich würde ihr nicht die Genugtuung geben und ihr zustimmen.
"Weißt du, Samantha. Jeder hat es verdient, einen Menschen an seiner Seite zu haben. Einen Menschen, der sich um dich kümmert. Ohne so einen Menschen wäre die Welt kalt und grausam. Willst du lieber ein einsames Leben führen? Du fällst niemandem zur Last."
Wieder sah sie mich mit diesem wissenden Blick an, dabei wusste sie rein gar nichts.
"Gefühle machen uns menschlich. Sie sind kein Zeichen von Schwäche. Du darfst aber anderen Menschen nicht ihre Gefühle für dich vorschreiben. Er ist dein Bruder, natürlich macht er sich Sorgen um dich."
Mein Vater war auch mein Vater und trotzdem war ich ihm total egal!
Doch ich schwieg und sah sie weiterhin stur an. Sie sollte einfach ihre verdammte Klappe halten.
"Du brauchst auch in mir keinen Feind sehen. Ich bin für dich da. Du kannst mir zu jeder Uhrzeit schreiben. Ich werde dir zuhören." Sie war nun voll in Fahrt gekommen. Also schaltete ich ab.Mein Problem war nicht, dass sie mir zuhörte oder ich mit ihr reden sollte. Mein Problem war viel eher, dass sie dafür bezahlt wurde, dass sie mir zuhörte und ich mit ihr reden sollte. Ich interessierte sie nicht persönlich. Sie interessierte sich nur für mich, weil es ihr Beruf war. Von dem Geld könnte ich mir viel eher Alkohol kaufen. Dieser hätte wenigstens einen direkten Nutzen für mich. Das Treffen hier war Zeitverschwendung. Und Geldverschwendung. Aber mein Bruder war glücklich darüber, also würde ich es wohl oder übel ertragen müssen.
Mein gesundes Auge fixierte sie wieder. Sie redete nicht mehr, sondern schaute mich aus ihren grünen Augen einfach nur still an. "Hast du meine Frage gehört", fragte sie nun leicht lächelnd, ihre Ton war weiterhin freundlich. Trotzdem schaltete ich nun auf meinen wachsamen Modus um. Mein Vater hatte es nie gemocht, wenn ich ihm mal nicht zugehört hatte. Sie würde mich wahrscheinlich nicht schlagen, aber trotzdem saß ich sofort angespannt auf meinem Stuhl und musterte sie.
Sicher ist sicher.Während sie mich weiterhin anschaute, lehnte sie sich zurück, überschlug die Beine und wiederholte geduldig ihre Frage: "Was sind deine Ziele für deine Zukunft?" Vollkommen aus dem Konzept gebracht, starrte ich sie einfach nur an. "Es zählt auch die nahe Zukunft", lächelte sie und reichte mir einen Stift. Steif ergriff ich diesen und begann, nach kurzem Zögern, etwas aufzuschreiben. " Lucas wiedersehen. Mit meinem Bruder sprechen" Ich wollte ihr den Zettel geben, doch sie schüttelte den Kopf. "Nein, der Zettel ist für dich. Mich geht sowas nicht an. Behalte ihn also und hole ihn immer wieder raus, um dich zu erinnern, dass es sich lohnt für seine Ziele zu kämpfen." Sie beugte sich leicht vor. "Aufgeben tun Feiglinge. Du bist aber kein Feigling Samantha. Du hast eine Menge Mist durchlebt, dann wirst du auch das hier durchleben. Du bist eine Kämpferin, vergiss das bloß nicht. Ziele erreichen sich nicht von alleine, aber du schaffst das. Und weißt du, warum ich mir da so sicher bin? Du bist stark! Wärst du es nicht, würdest du heute nicht vor mir sitzen!"
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Broken Inside
De TodoSamantha ist gefallen. Ohne Lucas hat sie ihren Halt im Leben verloren. Er war ihr Fels in der Brandung und hat sie vorm Ertrinken gerettet. Doch nun ist er nicht mehr da. Der Umzug nach England hat sie vollkommen aus der Bahn geworfen und nun versi...