66 Kapitel

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Samantha P.o.V.

Kurz entglitten Sonja ihre Gesichtszüge, doch sie hatte sich schnell wieder unter Kontrolle. „Tut mir Leid. Ich hätte das nicht sagen sollen", entschuldigte sie sich hastig und erhob sich. Eine Schweißperle bildete sich auf ihrer Stirn und rollte herunter. Stumm sah ich sie an. Ich war immer noch fasziniert von mit selbst, dass ich so süffisant und fies sein konnte. „Ich lass dich mal in Ruhe", verabschiedete sie sich und hetzte aus dem Zimmer. Einen Moment war ich sprachlos, dann schüttelte ich meinen Kopf und versuchte mich zu entspannen. Das war ja mal interessantes Gespräch gewesen.
Mechanisch griff ich nach meinem Handy und rief die Nummer an, die ich immer wählte, wenn mein Kopf mal wieder keine Ruhe geben wollte. Zitternd kuschelte ich mich tiefer in mein Decke, schon mir das Wärmekissen zurecht und versuchte ruhig zu atmen. „Bitte geh ran", beschwor ich meinen persönlichen Helden. Anscheinend wurden meine Gebete ausnahmsweise mal erhört. Nach mehrmaligem Klingeln meldete sich eine schroffe Stimme. „Was gibt's?" Ein Seufzten verließ meine Lippen.
Glück gehabt.
„Hallo? Sam? Bist du dran", mit ungeduldigem Unterton wurde ich aus meiner Gedankenwelt gerissen. „Klar bin ich dran. Ich wollte nur mit jemandem reden", antwortete ich verzögert. „Und wie immer Denkst du als erstes an mich. Charmant, sehr charmant." Ein raues Lachen ertönte. „Weißt du doch. Was geht bei dir so?" Auf meiner Frage erfolgte erstmal keine Antwort. Stattdessen hörte ich ein Geraschel und weitere Stimmen im Hintergrund. „Einen Moment Prinzessin. Ich muss kurz meine Eltern loswerden", ertönte es wenig später. Ich atmete tief ein und aus. Geduld war nicht meine Stärke und aktuell brauchte ich dringend jemanden zum reden. Ich musste unbedingt mit jemanden über das belauschte Gespräch reden. Zu lange schon hatte ich diese Information in mich hinein gefressen.

„Aaaaalso. Da bin ich", verkündete sie laut. „Wo drückt der Schuh?" Bevor ich reagieren konnte, redete Grace ohne Punkt und Komma weiter. „Wobei...können Prinzessinnenschuhe überhaupt drücken? Wenn ich mich richtig erinnere, saß der Glasschuh bei Schneewittchen perfekt. Also so perfekt, dass man ihn dem Prinzen vor die Nase werfen und er den Schuh zum Wiederfinden seiner Traumfrau nutzen konnte. Faszinierend, dass er nicht zerbrochen ist", philosophierte sie vor sich hin. „Cinderella", unterbrach ich sie leicht schmunzelnd. Langsam glitt ich vollständig auf den Rücken und legte mich wieder richtig hin. „Hä", gab sie wenig intelligent ihre Antwort dazu. „Cinderella hatte den Glasschuh. Schneewittchen war die mit dem Glassarg", korrigierte ich sie ruhig. „Sag ich ja, Glas. Aber ich erinnere mich trotzdem an keine Prinzessin mit falsch sitzenden Schuhen. Nur an die eine Trulla mit der Erbse. Sie war allergisch gegen das Teil, oder?" „Ja, ja so ungefähr kann man das nennen", stimmte ich ihr einfach zu. Mal wieder war ich fasziniert von ihrer Fähigkeit, meine Gedanken auf ein vollkommen belangloses Thema zu lenken und mich so von meinen Sorgen abzulenken. „Dann gab es doch noch die eine mit den langen Haare. Waren es eigentlich ihre Schamhaare, die etwas zu lang geraten sind? Naja, kein Wunder das sie nur das Biest und keinen Prinzen abbekommen hat", schlussfolgerte sie weiterhin. Fassungslos schlug ich mir mit der Hand auf die Stirn. Wie konnte man nur so ignorant und dumm gegenüber klassischen Märchen sein? Selbst wenn man die Märchen nie gelesen hatte, gab es immer noch genügend Filme über diese Geschichten. Alleine Disney hatte alles tausendmal in verschiedenen Erzählungen verfilmt. „Nein, es waren ihre Haare auf dem Kopf und bevor du fragst: sie hieß Rapunzel und war blond. Und sie hat einen Prinzen abbekommen. Und in der neusten Verfilmung ist es ein total heißer Dieb. Und das Biest war ebenfalls ein Prinz, aber halt ein verfluchter Prinz. Und er hat am Ende Belle bekommen", versuchte ich ihr einen Crashkurs zu geben. „Ist doch alles das Gleiche in grün", wischte sie meinen Einwand grob zur Seite. „Also. Da Prinzessinnen keine drückenden Schuhe haben, frage ich lieber so: Wo zwickt das Diadem?" Ich verdrehte die Augen. Am liebsten hätte ich ihr eine gescheuert, aber sie würde zurückschlagen und war definitiv stärker als ich. Außerdem trennte uns ein Ozean voneinander.

„Mein Diadem ist in der Reparatur, danke der Nachfrage", verkündete ich naserümpfend. Kichernd klang ihre Stimme aus meinem Handy. „Okay. Und was geht sonst so?" Wer hätte gedacht, dass ich Grace mal kichern hören würde?
„Wusstest du, dass mein Bruder mich vor Gericht entmündigt hat", platzte ich heraus. Kurz schwieg sie. „Ich habe es mir gedacht", antwortete sie gedehnt. Ihre Unbefangenheit war aus ihrer Stimme entwichen und sie klang plötzlich ungewöhnlich ernst.
Wahrscheinlich wusste es jeder außer mir.
„Naja, auf jeden Fall will Damon ihm jetzt die Vormundschaft vor Gericht entziehen", fuhr ich weiter mit meinem Bericht fort, aber ein Geräusch unterbrach mich. Grace schien sich was in den Mund zu schieben, denn ein mahlendes Geräusch erklang. „Aha, und weiter", schmatzte sie. „Die beiden streiten durchgehend und jeder weiß es besser. Aber mir hat keiner etwas gesagt. Ich habe es durch die Tür gehört." „Uhhhhh die brave Sammy wird ein Badgirl und lauscht an fremden Türen", gab sie begeistert von sich und schien sich wieder was in den Mund zu schieben, denn sie kaute extrem laut ins Mikrofon. „Sag mal, frisst du gerade etwa Popcorn", fragte ich irritiert und legt die Stirn in Falten. Stille. Dann kaute sie weiter. „Neeeeeeein, wie kommst du denn darauf", fragte sie gedehnt und unschuldig. „Grace!" „Ja gut, dein Leben ist halt spannend. Und ohne Popcorn würde bei deinen Erzählungen immer was fehlen", verteidigte sie sich und kaute weiter.
Immerhin unterhält meine Tragödie eine von uns beiden.
„Du bist unmöglich", stöhnte ich. „Ich mache sowas unglaublich möglich", gab sie klugscheißend von sich. „Der Satz macht keinen Sinn." „Für mich schon, also passt es, und jetzt weiter im Text. Ich will mein Popcorn alle kriegen und es klingt nach einer vielversprechenden Handlung." „Wieso sind wir nochmal befreundet? Erinnere mich nochmal kurz daran", konterte ich und rieb mir mit der Hand über meine Augen. Grace war toll, aber auch unheimlich anstrengend. „Weil du ohne mich nicht leben kannst und sonst niemanden zum reden hast", schoss sie ungeniert zurück. Kauend wartete sie eine Sekunden ab, dann forderte sie mich auf, weiter zu reden.
Ich mag sie, ich mag sie. Wir sind Freunde. Ich mag sie. Irgendwie.
Mein inneres Mantra verhinderte, dass ich sie durch das Handy erwürgte. „Es gibt nicht mehr viel zu erzählen. Hier herrscht Krieg und ich habe absolut keine Lust darauf", erwiderte ich gereizt. „Darling, du hast mich angerufen und wolltest mit mir reden. Ich kann nichts für deine Haussituation. Also zicke die Jungs an, aber nicht mich", kommentierte sie meinen kleinen Ausbruch an Emotionen.

„Ja. Tut mir leid. Ich will nur einfach nicht mehr. Also, ich will nicht nicht leben, sondern nicht mehr hier leben. Verstehst du was ich meine", gab ich verzweifelt von mir. Grace schwieg. Ausnahmsweise aß sie mal kein Popcorn, sondern schien ernsthaft nachzudenken. „Hau doch ab", schlug sie dann wenig hilfreich vor. „Wow. Du bist ein richtiges Genie. Ich habe leider ziemlich einprägsame Kennzeichnungen im Gesicht." „Ja gut, ist ein Argument. Aber als ich zu Besuch war, hattest du mir von deiner einen Idee erzählt. Die gefällt mir immer mehr, vor allem weil sie einen gewissen Gracetouch enthält." Gracetouch stand in dem Fall als Synonym für dumm, egoistisch und verzweifelt. Nun schwieg ich kurz. Es war zwar erst ein paar Wochen her, aber gefühlt kam mir dieses Gespräch noch weiter weg vor. „Meinst du wirklich? Ich habe Schiss, dass ich es nicht durchziehen kann", erwiderte ich und kaute nachdenklich auf meiner Unterlippe herum. „Pfff", schnaubte sie abwertend. „Du kannst dir Rasierklingen in den Arm rammen, deinen Vater überleben und so viel Alkohol in dich rein kippen wie kein anderer. Und es haben schon weitaus andere Menschen den Sprung aus ihrem Leben geschafft." „Okay. Vielleicht ziehe ich es wirklich durch", nuschelte ich. Unsicherheit plagte mich. „Samantha. Entweder ja oder nein. Unsicherheit ist bei dieser Aktion weitaus fehl am Platz!" Kurz schloss ich die Augen, fokussierte mich aufs Wesentliche, dann nickte ich. „Ja, du hast recht. Ich mach es. Aber du musst mir bei einigen Sachen helfen." „Was immer du von mir verlangst, Baby", gab sie verschmitzt von sich und gönnte sich noch mehr Popcorn.

Broken InsideWo Geschichten leben. Entdecke jetzt