16 Kapitel

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Hannah P.o.V.

„Ihr besucht Sam?" Mit dieser Frage stürmte ich an den Tisch von Lucas, Leon und den anderen Idioten. „Ja, wir wollten sie an ihrem Geburtstag überraschen" Leon lächelte mich erfreut an. Seit unserer Trennung hatten wir uns weder gesehen noch mit einander gesprochen. Eigentlich hatte ich mich ziemlich abgeschottet von dem Rest der Welt. Keiner hatte es je ausgesprochen, aber dennoch hatte ich das Gefühl, dass man mir Mitschuld an Sams Leben vorwarf. Ich, als ihre beste Freundin, hätte es wissen müssen. Doch wir waren nie wirklich so gut befreundet gewesen. Das hatte ich allmählich begriffen. Dafür waren wir einfach zu verschieden. Es war eher eine Zwecksfreundschaft gewesen. Wir wollten beide nicht alleine sein und somit waren wir Freunde geworden. Schulfreunde, mehr nicht. Ab und an haben wir was zusammen unternommen, mehr nicht. Anscheinend war ich aber die Einzige gewesen, die das so sah.

Grimmig erhob sich Grace. Die Brünette stemmte mit aufgeblähten Wangen ihre dünnen Arme in die Seite. „Was interessiert dich das denn", zickte sie mich an, woraufhin ich meine Augen verdrehte. Seit wann saß sie überhaupt mit denen an einem Tisch? „Ist es so verwerflich, dass ich meine beste Freundin wieder sehen will?" „Beste Freundin? Du bist ja eine tolle beste Freundin, wenn du ihre Probleme nie bemerkt hast!" Höhnisch schaute Diego mich an. Genervt zeigte ich ihm meinen Mittelfinger, was er lachend kommentierte. „Zu meiner Verteidigung: Niemand wusste davon. Also prangert mich nicht für mein Unwissen an. Ihr ward doch genauso blind!" Nun sahen wir uns alle schweigend an. Triumphierend lächelte sie anderen an. „Wir wollen Sam überraschen. An ihren Geburtstag", erklärte Lucas schließlich in die Stille hinein. Dankbar lächelte ich ihn an, doch er wandte seinen Kopf ab. „Da wird sie sich sicher freuen." Zögerlich bewegte ich mich an eine vor Wut schnaubenden Grace vorbei und setzte mich auf den letzten freien Stuhl. „Ich würde gerne mit kommen!" Aus Graces Mund kamen ein paar undefinierbare Laute, dann setzte sich sich wieder auf ihren Stuhl und musterte mich eisig. „Wenn sie mitkommt", zischte sie und zeigte anklagend auf mich: „Dann bleibe ich hier!"

Sofort ertönte der Protest. „Warum willst du überhaupt mit?" „Du bist doch gar nicht mit Sam richtig befreundet", unterstützte Leon mich und sah Grace mit wachsamer Miene an. Mit zusammengekniffenen Augen wandte sie sich dem Blondschopf zu. „Erstens: Du bist genauso wenig mit ihr befreundet wie wir alle hier. Außer Lucas vielleicht. Zweitens: Was ich wann tue, ist mein Sache. Freies Land und so. Und drittens: Ich wollte schon immer mal nach England. Also wage es ja nicht, mich daran zu hindern." Leon schüttelte den Kopf und gab gar nicht erst eine Antwort von sich. „Woah, Tiger. Fahr' die Krallen wieder ein. Niemand hindert dich an irgendwas. Wir sind doch nicht lebensmüde!" Beruhigend hob Alex beide Hände und versuchte die Furie zu besänftigen. Wir anderen machten uns nicht mal die Mühe. „Wo ist Elli? Will sie nicht auch Sam besuchen", fragte ich Lucas, einfach um vom Thema abzulenken. „Meine Cousine ist so schwankend wie ein Blatt im Sturm. Wer weiß was jetzt gerade durch Ihren Blondinen Kopf geht", schnaubte Leon verächtlich. „Wir haben sie bislang noch nicht in unsere Planung involviert", erklärte Lucas und kaute nachdenklich auf seiner Brotkruste herum. „Und warum holt sie dann keiner von euch?" Vorwurfsvoll sah ich alle nacheinander an. Ja, Elli hatte sich ziemlich verändert, aber sie hatte ja auch was mit Sam zu tun gehabt. „Sie kann mich mal!" „Ich stehe nicht so auf überdrehte Blondinen. Also eigentlich habe ich ein Problem mit allen Blondinen", erklärte Grace bissig mit finsterem Blick zu mir. Das Sam Blond war, ignorierte sie wohl. Das Wort Stutenbissig beschrieb sie definitiv am besten! Das Leon auf seine Cousine nicht gut zu sprechen war, wunderte mich nicht. Er nahm ihr es wohl immer noch übel, dass ich allen verkündet hatte, dass ich sie liebte. Das Thema war eines unserer vielen Trennungsgründen gewesen. Sein Ego war angekratzt, ich hatte ihn nur zum Schein ausgenutzt. Das volle Programm. Dann hatte Elli irgendwann auch noch ein, zwei Sätze gesagt, die Sachen angedeutet hatten und das Ganze was etwas eskaliert. Ich erinnere mich nicht gerne daran.

„Als Sams Freundin hat sie ein Recht darauf mitzukommen. Wir sollten sie immerhin fragen", entschied ich und erhob mich steif. „Toll, jetzt ladet unsere erste ungeladene Blondine auch noch die zweite Tussi ein", grummelte Grace und schenkte mir ein schmales Lächeln. Süß lächelnd zeigte ich ihr meinen Mittelfinger, dann ging ich durch unsere Cafeteria zum hintersten Tisch. Wie immer in letzter Zeit bildete ich mir ein, dass alle Schüler nur mich anschauten und über mich lästerten. Meine kurzen Seitenblicke verrieten mir, dass niemand mich auch nur ansatzweise beachtete. Trotzdem, das nagende Gefühl im Zentrum der Aufmerksamkeit zu stehen, begleitete mich auch auf meine letzten Schritte. Schnell formte ich ein Lächeln auf meinen Lippen, dann erreichte ich auch schon Elisabeth und ihre neuen Freunde. Lachend saßen sie beisammen, zeigten sich die neusten Fotos und unterhielten sich über den neusten Tratsch und Klatsch. Gott, ich hasste Cheerleader!

„Was willst du hier, Hannah?" Isabellas giftiger Ton konnte mich nicht mehr einschüchtern. Dafür kannte ich sie schon zu gut. Ich war schlimmeres gewohnt. Ich kannte Grace. „Von dir will ich schon mal gar nichts!" Ich war lange genug mit diesen Mädels zusammen gewesen und wusste wie man hier auftreten musste. Früher hatte ich sie als Freundinnen angesehen, doch diese Zeiten waren vorbei. Falsch lächelnd sah ich Isabella an, welche missmutig ihr Gesicht verzog. Wir konnten uns auf den Tod nicht ausstehen.
„Elli? Können wir kurz reden?" Mein eisiger Ton ließ die Angesprochene eine Augenbraue hochziehen, doch sie bewegte sich keinen Meter. „Was immer du zu sagen hast, sprich", forderte Isabella mich falsch lächelnd auf. „Seit wann heißt du Elli? Ich denke, Elisabeth ist alt genug, selbst zu antworten! Also, kommst du jetzt mit mir mit oder nicht?" Seufzend packte diese ihre Sachen zusammen und erhob sich. Anscheinend war in ihr noch sowas wie Vernunft vorhanden „Wir sehen uns in Chemie." Damit folgte sie mir und ließ ihren Clan doof dreinblickend zurück.

Als ich die Gruppe Mädels gesehen hatte, war mir eine Sache klar geworden: Sam war nicht nur eine Schulfreundin gewesen. Sie war meine Freundin gewesen. Meine einzige richtige Freundin. Und ich wollte sie wiedersehen! Ich hatte meine Augen vor der Realität geschlossen. Rein rechtlich gesehen traf mich keine Schuld, doch auf der sozialen Ebene war ich eine grausame Freundin gewesen, die sich einen feuchten Dreck für andere interessiert hat. Ich hatte ihre Anwesenheit als selbstverständlich angesehen.
Nie hatte ich nachgefragt, wenn sie mir eine Ausrede für ihre Verletzungen gesagt hatte.
Nie hatte ich mich ehrlich für ihre Probleme interessiert.
Nie hatte ich auch nur Anteilnahme an ihrem Leben gezeigt.
Sie hat geschwiegen und ich habe geredet.
Sie hat zugehört und ich habe alles überhört.
Sie hat gelitten und ich habe sie ausgenutzt.
Gute Freunde tun sowas nicht, aber ich habe es getan.

Broken InsideWo Geschichten leben. Entdecke jetzt