21 Kapitel

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Samantha P.o.V.

Der Dunkelheit zu entkommen, war eine Lebensaufgabe für mich. Seit jeher versuchte ich es, doch ich scheiterte. Immer. Irgendwann holte mich die Schwärze ein und nahm mich wieder gefangen. Deshalb hatte ich aufgegeben vor ihr zu fliehen. Ich empfing sie inzwischen wie einen alten Freund und ließ mich einfach treiben. Ihr zu entkommen war für mich unmöglich.
Ich hatte das Kämpfen aufgegeben.
Mein Körper fühlte sich schwerelos an. Wie eine Feder trieb er durch die Dunkelheit. Diese breitete sich immer mehr aus. Sie nahm nicht nur von meinem Umfeld, sondern auch von meinem Inneren Besitz. Das war der Moment wo meine Lunge aufgab. Die Dunkelheit lähmte meine Atemwege. Vor Schreck riss ich die Augen auf und richtete mich hustend auf. Röchelnd beugte ich mich vor und würgte. Immer wieder würgte ich. Mein ganzer Körper begann zu zittern als der nächste Hustenanfall mich plagte.
Muskulöse Arme legten sich um mich und halfen mir dabei, mich aufzurichten. Trotzdem wurde das Zittern immer schlimmer. Tränen rannten über meine Wangen. Mein ganzer Körper schien in Flammen zu stehen. Mein Kopf dröhnte, während mein Unterleib einfach nur vor Schmerzen brannte. Es war mörderisch. Hände zerrten an mir. Stimmen redeten auf mich ein, doch das einzige was ich hörte war meinen Namen. Immer wieder. Wie eine Beschwörungsformel wiederholte jemand meinen Namen, doch ich reagierte nicht. Stattdessen gab ich mich wieder meinem alten Freund hin. Lächelnd umhüllte mich die Dunkelheit und nahm mich zurück in ihre schmerzende Umarmung.

Eine Berührung ließ mich aufschrecken. Raue Hände umklammerten meine linke Hand. Schwerfällig öffnete ich meine Augen, blinzelte mehrmals und benetzte meine Lippen mit der Feuchtigkeit meiner Zunge. Langsam drehte ich meinen Kopf, welcher sofort protestierend schmerzte. Mein Bruder saß auf einem Holzstuhl neben mir und hielt mit gesenkten Kopf meine Hand fest umklammert. Zaghaft erwiderte ich seinen Händedruck, woraufhin sein Kopf hochschoss. Dunkle Augenringe zierten sein bleiches Gesicht. Trotzdem leuchteten seine Augen erleichtert auf. „Sam", flüsterte er erleichtert und streckte seine rechte Hand nach mir aus. Argwöhnisch stierte ich ihn an. Er ignorierte mein Zusammenzucken und strich mir sanft meine verschwitzen Haarsträhnen aus dem Gesicht. „Ach Sammy. Was machst du nur für Sachen?"
Was soll ich darauf antworten. Genau, nichts. Schweigend sah ich ihn an. Der sterile Geruch von Krankenhaus verätzte mal wieder meine Atemwege, doch ich wollte meinen Bruder nicht bitten, aufzustehen und das Fenster zu öffnen. Er sollte hier bleiben. Hier sitzen, meine Hand halten und einfach für mich da sein. Mehr nicht. Basti sah mich aus seinen müden Augen an. Sein ehemals blaues Hemd, stand nur so vor Dreck. Er musste mich getragen haben. Die Erkenntnis über meine Tat überkam mich und trieb mir Tränen ins Gesicht.

„Hey. Nicht weinen. Bitte. Ich muss sonst mitweinen", flehte er mich an, doch der Damm war gebrochen. Tauende von Tränen rollten über meine Wangen. Ich fühlte mich einfach nur schlecht. Einerseits plagte mich mein Kater, andererseits das schlechte Gewissen. Laute Schluchzer verließen meine spröden Lippen. Meine eh schon eingeschränkte Sicht verschwand komplett in einem Schleier aus Wasser und Nebel. Die Gefühle in mir liefen Amok. Alles was ich die vergangenen Jahre unterdrückt hatte, überrollte mich nun und ließ mich leiden. Ich war ein Orkan aus Gefühle. Vollkommen überfordert mit mir selbst und meiner Situation, umklammerte ich die Hand meines Bruders. Sanft schob er mich zur Seite, setzte sich neben mich und zog mich an seine Brust. Und ich ließ es zu. Sich fallen zu lassen war angenehm. Hemmungslos rotzte ich sein eh schon versautes Hemd voll und weinte einfach nur. Meine bandagierten Arme klammerten sich an seinem muskulösen Körper fest. Wie eine Ertrinkende an einem Felsen klammerte ich mich an ihn. Seine Hände zogen mich an ihn ran und strichen mir immer wieder über den vernarbten Rücken und durch meine kaputten Haare. Beruhigende Wörter verließen seinen Mund, doch ich hörte sie nicht wirklich. Ich genoss einfach den Moment. Auch als keine Tränen mehr kamen, schmiegte ich mein Gesicht in sein versautes Hemd.

„Ich bin immer für dich da Sam. Immer. Du musst nur mit mir reden, bitte!" Seine verzweifelten Worte drangen zu mir durch, weshalb ich den Kopf hob und ihn durch mein gesundes Auge anschaute. „Sowas wie gestern geht nicht. Das zerstört nicht nur dich, sondern auch mich." Meinen Bruder so verletzt und verzweifelt zu sehen tat weh. Ein schrecklicher Schmerz breitete sich in meinem Herzen aus. Und dennoch passten diese Worte einfach nicht in meinen Kopf. In dem Moment machte es Klick in meinem Kopf. Ich fühlte mich auf einmal befreit. Als hätte mich ein schweres Gewicht verlassen, welches seit ewigen Zeiten auf meinen Schultern lastete.
„Einen Scheiß bist du!" Erst nach einigen Sekunden realisierte ich, dass der raue Ausruf von meinen Lippen kam. Als wäre meine Stimme über Schleifpapier geschliffen wurden, rasselte sie bei jedem Laut der meine Lippen verließ. Die Augen meines Bruders weiteten sich. „Bitte was", krächzte er. Er richtete sich leicht auf. Nun saßen wir uns gegenüber. Ich verdrehte meinen Oberkörper weiter um meinen Bruder besser betrachten zu können. „Du warst nie für mi a", meine Stimme brach ab und ich verschluckte die Hälfte der Buchstaben. Schnell griff ich nach dem Wasserglas und trank einen großen Schluck. Kälte durchfuhr mich und besänftigte meinen gereizten Hals. Tief holte ich Luft, dann sprach ich mit rauer Stimme weiter. „Du warst nie für mich da. Selbst als du noch bei uns lebtest, hast du nur deinen eigenen Scheiß durchgezogen. Du hast doch nicht mal bemerkt, wie scheiße es mir geht! Und jetzt? Du zerrst mich überall hin und entscheidest alles hinter meinem Rücken. Du fragst mich nie, wie ich mich dabei fühle oder wie es mir geht! Nie!" Wasserfälle von Tränen flossen wieder über meine Wangen. Die letzten Worte schluchzte ich nur noch, während mein Bruder mich sprachlos ansah. Ich hatte noch so viel zu sagen, doch die Worte wollten meine Lippen einfach nicht verlassen. Fürs erste war dies wohl genug.

Wir schauten uns an. Beide hatten wir Tränen in den Augen. „O mein Gott. Sammy", wisperte er und breitete seine Arme aus. Erst wollte ich ausweichen, doch er packte mich und zog mich wieder an sich heran. Mit verkrampften Muskeln stemmte ich mich gegen seine Brust, doch er war zu stark. „Ich habe dich so lieb, Kleine. Du glaubst gar nicht, was für Schuldgefühle ich habe. Glaube mir, würde ich die Zeit zurück drehen können, ich würde alles anders machen", redete er auf mich ein und strich mir immer wieder durch die Haare. Der Gestank von Blut, Alkohol und seinem Deo drang in meine Nase als ich mein Gesicht wieder in sein Shirt vergrub.
„Es tut mir so wahnsinnig Leid."

Broken InsideWo Geschichten leben. Entdecke jetzt