12 Kapitel

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Samantha P.o.V.

Der Beat hatte komplett Besitz von mir ergriffen. Mit Hilfe einiger Drinks war ich wieder vollkommen locker und rockte mit Jo zusammen die Bühne. Ich war überall und nirgends. Wodka-Energie war heute Abend mein bester Freund. Die tödliche Mischung dieses Getränks hatte es in sich. Wie in einem Film nahm ich die Umwelt begrenzt war. Alles zog verschleiert an mir vorbei. Zack. Zoom, nächste Sequenz. Tanzen. Zack. Zoom, nächste Sequenz. Trinken. Zack. Zoom, nächste Sequenz. Ich hatte mein Zeitgefühl vollkommen verloren. Ich lebte im hier und jetzt, vergaß meine verklemmte Seite und fühlte einfach nur den Beat. Mit dem Handy in der Hand nahm ich kurze Filme für Snapchat auf. Meine Freunde in Amerika sollten bloß nicht denken, dass ich ohne sie nicht leben konnte!
Ich brauchte sie so dringend. Ohne Lucas war ich ein Niemand.
Der Alkohol ließ mich allerdings meine Sorgen vergessen. Zum mindestens für diesen Moment fühlte ich mich wieder frei und unbeschwert. Angenehm war auch, dass niemand hier irgendwas an mir hinterfragte. Weder nie Narben noch meine Vergangenheit wurde erwähnt. Ich war einfach nur die stumme Sam. Zack. Zoom, nächste Sequenz. Jo grölte in die Kamera und zog lauter Fratzen, was ich lautlos lachend aufnahm. Es war so einfach seine Sorgen über Bord zu schmeißen, wenn man die nötigen Mittel hatte. Ich schob mein Handy zurück in die Hosentasche, legte den Kopf in den Nacken und ließ mich treiben. Zack. Zoom, nächste Sequenz. Die pulsierende Menge um mich herum und der dröhnende Beat ließen mich auf und ab springen. Mal sah ich scharf, mal war alles verschwommen. Die sauerstoffarme Luft stank nach Schweiß, Rauch und Alkohol und trotzdem störte es mich ausnahmsweise nicht.
Zack. Zoom, nächste Sequenz.
Jos Berührungen ließen mich vollkommen kalt. Ab und an berührte er meinen Arm, zog mich von aufdringlichen Jungs weg und achtete darauf, dass ich keinen Ellbogen abbekam. Meine Vergangenheit war für den Moment irgendwo hinten in meinem Kopf. Einzig das hier und jetzt zählte. Ich vergaß alles. Die einschläfernde Wirkung des Alkohols verlor gegen die aufpustende Wirkung des Energiesdrinks. "Lilys Partys sind immer die geilsten", schrie Jo über den Lärm hinweg und ich zeigte zustimmend den Daumen nach oben. Es war hier wie in einer Disco.
Nur das die Getränke hier umsonst waren.

Zack. Zoom, nächste Sequenz. Jo packte mich am Arm und zerrte mich zur Bar. Schwankend und lachend folgte ich ihm. Die Leute wirkten unecht. Ihre Körper waren nicht wirklich materiell, eher verschleiert. Als hätte jemand einen Unschärfeeffekt über einen Film gelegt. Wir erreichten die Bar viel zu schnell. Dort saßen einige Jugendliche über ihre alkoholischen Getränke gebeugt. Jo drängelte sich mal wieder rücksichtslos vorbei. Ich folgte ihm wie ein Dackel seinem Herrchen. Ein bescheuertes Grinsen lag auf meinen Lippen. Seine Wodka-Orangensaft Mischen bestanden eher aus Wodka als aus O-Saft. Trotzdem trank ich gleich zwei halb volle Becher. Ich war kein Mensch, der Alkohol gut verträgt. Eher im Gegenteil. Die letzten Male Hagen es mir bewiesen. Trotzdem ließ ich nicht die Finger davon. Vollgepumpt mit Alkohol stand ich da und grinste wie eine Bekloppte vor mich hin. Ich wollte vergessen und das konnte ich somit. Zack. Zoom, nächste Sequenz. Der nächste Becher wurde mir zugeschoben. Im letzten Moment konnte ich ihn ergreifen. Die Hälfte ging daneben und nur ein paar Schlucke blieben übrig. Wir bemerkten es nicht. "Wetttrinken", entschied Jo. Ein blondes Mädchen mit einem grünen Oberteil beugte sich vor. "Ich bin der Schiedsrichter", verkündete sie leicht beschwipst. "Also, seid ihr bereit? 3...2...1...saufen", kreischte sie begeistert los. Mein hektisches Trinken führte zu Tränen in den Augen, aber leider nicht zum Sieg. Jo gewann knapp. Den Großteil des Getränks hatte ich nicht einmal getrunken. Es war kühl an meinem Kinn runter gelaufen und hatte meine Hose befleckt. "Du warst gut, aber falls es dich tröstet: Niemand schlägt Jo! Er ist der geborene Alkoholiker", feixte sie. "Nicht jeder hat so ein sinnvolles Talent wie ich", posaunte der Gewinner stolz heraus. Irgendwo in meinem Kopf begann eine Stimme sich zu beschweren und wollte mir weiß machen, dass das, was ich tat, falsch war. Ich ignoriert sie. Ich ignorierte alles.

Zack. Zoom, nächste Sequenz. Ich fand mich auf der Toilette wieder. Wie in einem schlechten Film mit zu vielen Effekten drehte sich meine Umwelt. Nach dem Wetttrinken hatte ich getanzt, dann musste ich auf mal aufs stille Örtchen. Hier saß ich nun. Die Zeit verging wie im Flug. Einerseits viel zu schnell und dann wieder zu langsam. Zittrig zog ich mein Handy hervor. Ich schüttelte meinen Kopf wie wild. Mir war nicht schwindelig oder schlecht. Also war ich noch gar nicht so betrunken. Das jedenfalls redete ich mir in einer Tour ein. Nachrichten häuften sich auf meinem Display. Verwirrt öffnete ich den Snapchat Chat von Grace und mir.
"Lösch diese Videos oder ich kill dich."
"Samantha, ich meine das ernst. Dein komischer Freund hier in Amerika läuft Amok."
"Als ob ich weiß, ob du einen fucking Freund hast oder nicht."
"Lösch die Videos! Er nervt mich!"
Verwirrt starrte ich den Display an.
Ist Lucas etwa eifersüchtig?
Kopfschüttelnd tippte ich eine Antwort. Ich brauchte Ewigkeiten dafür, da ich andauernd die falschen Buchstaben erwischte,
"Wo ist sein Problem?"
Ich wollte das Handy eigentlich wieder weg legen, doch die kiffende Brünette antwortete sofort.
"Ähm, Vll weil...ach vergiss es. Schreib ihm einfach, dass er deine große Liebe ist und Blabla. Er soll aufhören mich zu nerven"
Ich strich mir eine lange Haarsträhne nach hinten. Wovon redete sie?
"Ok"
Nach meiner kurzen Antwort, ging ich auf den WhatsApp Chat von Lucas und mir. Auch er hatte mir geschrieben, doch ich machte mir gar nicht erst die Mühe, die ganzen Nachrichten zu lesen. Ich würde sie mir eh nicht merken können. Angestrengt starrte ich das viel zu helle Display an.
"Du sollst aufhören Grace zu nerven."
Sofort taucht das online Zeichen auf. Der Arsch saß doch tatsächlich um zwei Uhr nachts vor seinem Handy und wartete auf meine Nachrichten. Wobei, bei ihm müsste es ja erst abends sein. Zeitverschwendung und so.
Idiot.
Er sollte sich nicht so um mich sorgen. Ich kam klar. Wie immer.
Ich nutzte die Zeit, wo Lucas schrieb, und schrieb Damon eine kurze Nachricht.
"Hey. Lass mich doch bei Lily pennen. Ist für alle einfacher. Sam."
Dieser schien leider regelrecht auf die Nachricht gewartet zu haben, denn die Antwort kam sofort.
"Vergiss es. Du nüchterst dich auf der Stelle aus. Kein Alkohol mehr sonst killt mich dein Bruder. Ich hole dich um halb vier ab!"
Wütend biss ich mir auf die Unterlippe. Er hatte mein Vorhaben wohl längst durchschaut. Kacke. Wieso mischten er und mein Bruder sich so in mein Leben ein? Ich war alt genug.
Verdammt nochmal!
Ein innerer Zwiespalt ergriff mich. Ich wollte trinken, aber mein Bruder sollte sich keine Sorgen um mich machen. Bevor ich jedoch meinen Kopf weiter zerbrechen konnte, tauchte Lucas Roman bei mir auf dem Handy auf.
"Endlich. Ich bin schon gestorben. Du bist schwanger, warum feierst du da? Sam. Ist bei dir wirklich alles in Ordnung? Wer ist dieser Typ? Bedrängt er dich? Weiß er deine Geschichte? Zwingt er dich zu Sachen?"
Wütend biss ich meine Zähne zusammen. Mein Leben, meine Entscheidungen! War das so schwer zu verstehen?
"Du klingst schlimmer als mein Bruder. Geburtstag. Ja. Jo. Nein. Nein. Nein."
Damit war die Sache für mich gegessen und ich packte mein Handy wieder ein. Sollte er sehen, was er daraus verstand und was nicht.
Zack. Zoom, nächste Sequenz.

Broken InsideWo Geschichten leben. Entdecke jetzt