57 Kapitel

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Lucas P.o.V.

„Nein", sagte ich entschieden. Als wenn sie denken konnte, dass ich das machen würde, nur weil sie es sagte. Das habe ich noch nie gemacht und werde es auch nie machen. Erbost hob sie eine Augenbraue und verschreckte die Arme. Abwartend tippte sie mit ihren schwarzen Stiefeln auf den Boden, doch davon ließ ich mich nicht beeindrucken. Nein war nein. Ende der Diskussion. „Was heißt hier nein?" „Nein ist nein. Das bedeutet, dass ich das jetzt nicht mache", erklärte ich und wollte zurück in die Klasse gehen, doch sie packte meinen Arm und hielt mich zurück. „Lucas Night! Was stimmt nicht mit dir", herrschte sie mich wütend an. „Was stimmt denn mit dir nicht, Giftzwerg", knurrte ich und beugte mich bedrohlich zu ihr runter. Jedes andere Mädchen hätte sich zurückgezogen, doch sie stemmte erst recht die Füße in den Boden und legte den Kopf in den Nacken. Ein trotziger Blick huschte über ihr Gesicht. Kurz öffnete sich ihr Mund um was zu sagen, doch dann ergriff sie blitzschnell meine Hand. „Dann antworte ich ihr!" Diesmal war ich auf ihre Kraft vorbereitet und formte mit meinen Händen Fäuste, damit sie nicht meinen Finger für den Fingersensor haben konnte. Zappelnd hing sie an meinen Fingern, doch mit einer Hand kriegte sie meine Faust nicht auf. Auch als sie mein Handy in ihre Hosentasche schob und die zweite Hand dazu nahm, hatte sie keine Chance. „Vergiss es", zischte ich. Quietschend ließ sie von mir ab, stampfte trotzig auf den Boden auf und schubste mich dann gegen die Wand. Mal wieder.

„Herr Gott nochmal", fing sie an zu wettern, doch ich unterbrach sie ungeduldig. „Lass den guten Herrn mal aus unserer Diskussion raus. Der hat besseres zu tun!" Genervt verdrehte sie die Augen und holte mein Handy hervor. „Was ist dein gottverdammtes Problem. Wieso antwortest du ihr nicht?" Gekonnt ignorierte ich ihren Seitenhieb auf meinen Kommentar. „Woher willst du wissen, dass ich ihr nicht später antworten werde?" „Natürlich wirst du das tun, doch dann ist zu spät. Sie braucht jetzt deine Antwort!" Frustriert haute sie sich auf die Oberschenkel, wirbelte mein Handy herum und sah mich aus ihren braunen Augen durchbohrend an. „Kannst du bitte mein Handy in Ruhe lassen?" Wieder hob sie eine Augenbraue, hielt kurz inne und dann fing sie wieder an es von einer Hand zur anderen zu werfen. „Also. Rede. Jetzt."

Mein Blick wanderte zum Klassenzimmer. Sie folgte meinem Blick, schnalzte auf und verdrehte die Augen. Dann packte sie meinen Arm und zerrte mich zur Sitzecke am Ende des Flurs. „Sitz", befahl sie entschieden und zeigte auf die dreckigen Polster. „Wuff", konterte ich. „Witzig. Richtig witzig." Elegant ließ sie sich auf die Kante des Ecksofas nieder. Da mir nichts anderes übrig blieb und wir eh dem Unterricht verwiesen worden waren, plumpste ich neben sie. Mein Handy ruhte auf ihrem Schoß, gut beschützt von ihren umher zappelnden Händen. Stillhalten war wohl ausverkauft.
„Also, wieso antwortest du ihr nicht", fing sie wieder an. „Was interessiert es dich?" Ertappt wich sie meinem Blick aus. „Sie ist meine Freundin...", fing sie an herumzudrucksen. Wer hätte gedacht, dass dieses Wort in ihrem Wortschatz überhaupt vorhanden war? „Jaja, ist klar. War sie vor kurzem nicht noch die Eisprinzessin für dich?" Mein Blick durchbohrte sie förmlich. Kurz verlor sie ihre unnahbare Fassung, doch dieser Moment währte noch kurz. Energisch wischte sie ihre Gedanken mit der Hand fort und warf ihr Haare nach hinten. „Meine Gedanken und unsere Beziehung haben dich nichts anzugehen. Wichtig ist nur, was bei euch nicht stimmt." Naja, ein Versuch war es wert, aber anscheinend kam ich aus dieser Nummer nicht mehr raus.
Notiz an mich: Im Unterricht umsetzen und nicht mehr in ihrer Nähe sein. Dann passiert sowas definitiv nicht mehr und ich hätte meine Ruhe vor diesem anstrengenden Kleinkind.

„Bei uns ist alles in Ordnung", fing ich an, doch selbst in meinen Ohren klang meine Stimme seltsam hohl und rau. Wäre ich Grace, würde ich mir kein Wort glauben. Abwartend schaute sie mich an. Sie schien mir nicht zu glauben. Schade, ihre wenigen Gehirnzellen funktionierten anscheinend noch. „Okay. In Ordnung ist übertrieben." „Was du nicht sagst", schnaubte sie verächtlich. Abwartend musterte sie mich mit ihren schwarz umrahmten Augen. „Seit unserem Besuch bei ihr hatten wir keinen Kontakt mehr. Ich dachte, sie braucht Ruhe, Zeit, Platz. Ach, keine Ahnung was ich dachte. Zwischendurch haben wir mal gesnapt, doch das war es." Verzweifelt fuhr ich mir durch die Haare. Ihr prüfender Blick ließ mir keine Ruhe und so begann ich mich um Kopf und Kragen zu reden. „Seit sie weg ist, habe ich gemerkt, dass sich zwischen uns eine richtige Lücke aufgetan hat. Doch diese Lücke ist irgendwie zu einer Schlucht geworden. Weißt du, was ich meine?" Verzweifelt fuchtelte ich mit den Händen durch die Gegend. Sie stützte ihr Kinn auf ihre Hand und sah mich abwartend an. Anscheinend verstand sie mich nicht. „Wir haben weniger geschrieben, haben uns aus den Augen verloren und irgendwie wurde es immer stiller bei uns. Und als wir bei ihr waren, habe ich gemerkt, dass sich meine Gedanken bestätigt haben. Das zwischen uns fühlte sie so fremd an. Ich muss gestehen, all das wurde mir zu viel. Ich weiß, es ist lächerlich. Nicht ich hatte dieses Leben gelebt, sondern sie. Und ich bewundere, dass sie noch so ist. Das sie noch lebt. Ich hätte ihre Hölle nicht ausgehalten. Ehrlich. Und ja, deshalb habe ich ihr nicht sofort geantwortet. Weil, was soll ich ihr schreiben?" Leicht wehleidig sah ich die nachdenklich Brünette an, welche sich jetzt wieder aufrichtete. „Wie wäre es mit hallo", schmunzelte Grace, wurde aber schnell wieder ernst. „Du weißt, was ich meine", entgegnete ich bissig. „Jaja, ich verstehe ja was du sagen willst. Aber ihr wart euch doch so nahe? Wieso jetzt nicht mehr?"

Genau die Fragen gingen mir auch ewig schon durch den Kopf. „Glaube mir Grace", seufzte ich. „Das weiß ich. Aber du musst auch verstehen, dass diese ganze Situation echt Hardcore ist. Für alle Beteiligten. Ich meine, ich kannte ihren Vater, ihre Familie. Ich wusste, dass er speziell war, aber so speziell? Sorry, aber das hatte niemand hier gedacht. Ich meine, woran hätte man das erkennen sollen? Hat man das überhaupt irgendwo mal gesehen? Hattest du eine Ahnung von den Geschehnissen? Oder kam dir je in den Sinn, an Sam und ihrem Charakter, ihrem Auftreten und ihrer Art zu zweifeln?" Fragend schaute ich sie an, doch sie senkte leicht den Blick. Ruhiger redete ich weiter. „Ich frage mich das auch. Aber manchmal glaube ich, dass ich mich in die Sam von damals verguckt habe. Dieses aus der Ferne beobachten, sie ärgern. Irgendwas hat sich dann geändert. Ich kann nicht sagen was es ist, aber mit der Zeit wurde es anders. Sie wurde eher wie eine Schwester für mich." Während ich sprach, fühlte ich, wie meine wirren Gedanken langsam Realität wurden und sich zu einem Sinn verformten. Ich liebte Samantha, aber es hatte sich verändert. Diese Stille, dieser Abstand. All das hatte meine Gefühle schwinden lassen. Anfangs vermisste ich sie in meiner Nähe, doch mit der Zeit wurde dies weniger. Die physische Distanz zwischen uns wurde auch zur psychischen Distanz.
Langsam nickte Grace mit dem Kopf und befeuchtete ihr Lippen. Meine Worte sickerten langsam durch ihren Kopf und ließen sie ruhiger werden. Sie schien zu verstehen was in mir vorging. Gedankenverloren fuhr sie sich durch die Haare und so verharrten wir einige endlose Sekunden lang. Doch dann richtete sie sich auf und sah mich unvermittelt an. „Okay, dann Schwester-Bruder-Gefühl aktuell. Nett, aber selbst ein Bruder antwortet seiner Schwester. Oder würdest du deine kleine Schwester ignorieren?"

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