55 Kapitel

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Samantha P.o.V.

Ich atmete ein. Ich atmete aus. Ich strich mir eine Haarsträhne aus dem Gesicht. Ich zog sie zurück um meine kaputte Gesichtshälfte zu verbergen. Ich sah meinen Bruder an. Ich sah weg.
Gott, was hatte ich getan?
„Denkst du das wirklich?" Mein Bruder sah mich hartnäckig an, während ich mich immer mehr an die Wand drückte. Wenn ich könnte, würde sofort mit ihr verschmelzen wollen. Das klappte nur leider nicht. „Samantha. Antworte mir", knurrte er mit zusammengebissenen Zähnen. Sein hektischer Blick war irgendwas zwischen verzweifelt und wütend. „Denkst du ernsthaft, dass du mich nicht interessierst? Denkst du das wirklich?" Gegen Ende wurde seine Stimme lauter, sodass ich den Kopf einzog. Das war wohl Antwort genug. Zischend zog er die Luft ein und fuhr sich durch seine Haare. „Verdammt", schrie er auf und schlug gegen die Wand. Unter seinem Hemd spannten sich seine Muskeln an, ließen ihn größer und bedrohlicher als eh schon aussehen.
Er ist nicht dein Vater. Er ist dein Bruder.
Verzweifelt versuchte ich mir einzureden, das alles gut war. Er würde mich nicht schlagen. Er würde mir nichts tun. Das hatte ich von meinem Vater zwar auch immer gedacht, aber mein Vater war ja nicht hier. Mein Bruder war hier und er würde mir nie was tun. Niemals. Nie.
Hoffentlich.
Energisch wirbelte er herum, durchquerte den Raum mit wenigen Schritten und setzte mich zu mir aufs Bett. Bevor ich runterspringen konnte, ergriff er meine Hand und hielt mich fest. Augenblicklich hörte ich auf zu atmen. Was hatte er vor?

Gleich würde er mich an sich heranziehen und dann? Würde ich seinen warmen Atem auf meinen Wangen und meinem Hals spüren? Seine rauen Lippen? Seine Zunge? Würden seine Hände mich berühren? Am Arm? Am Bauch? An der Brust? Würde er von mir wollen das ich mich auszog? Das ich mich ihm hingab?
Würde er mich verletzen wenn ich mich wehren würde?
Zitternd hielt ich seinem Blick stand, wobei meine Sicht immer mehr verschwamm. Ich hatte unerträgliche Angst. Mein Herz pochte so schnell, dass es mir fast aus der Brust sprang und wenn es möglich wäre, würde mein Puls sicher das ganze Haus mit Energie beliefern können, so schnell raste er.

Basti atmete tief durch und lockerte seinen Griff. Vorsichtig, ganz langsam, streckte er seine Hand mit den feinen Fingern aus und strich mich sanft eine Träne von der Wange. Ich spürte seine Hand kaum. Wie ein Windhauch streifte sie meine Haut. „Sammy. Meine kleine Sammy. Bitte hör auf sowas zu denken. Niemals, nicht in eine Millionen Jahre würde ich mich nicht für dich interessieren. Du bist mir unendlich wichtig. Verstehst du das", sprach er ganz leise. Seine Stimme bebte und er sah mich unsäglich traurig an. Die Wut war wie weggeblasen. In seinen Augen hing ein Glanz aus Kummer, Frust und Verzweiflung. Bebend hob ich meine Hand und ergriff seinen ausgestreckten Arm.
Wann hatte ich ihn das letzte Mal berührt?
Es kam mir vor als wäre das Millionen von Jahre her. Meine Finger umschlossen zaghaft und vorsichtig seine feine und gepflegte Hand. „Warum hast du mich dann allein gelassen?" Die Worte verließen mich ohne darüber nachzudenken. Eine dicke salzige Träne trat aus meinem kaputten Auge hervor und lief brennend über meine vernarbte Wange hinunter. Schmerzgepeinigt schloss er seine Augen. „Es tut mir unendlich Leid. Ich kann gar nicht in Worte fassen, wie sehr es mir leid tut. Es vergeht kein Tag an dem ich mir nicht Vorwürfe darüber mache. Jeden Tag frage ich mich, warum ich die Augen verschlossen habe. Wieso ich nicht wusste, was er tut. Jeden Tag stelle ich mir die Frage, ob ich wirklich so dumm und blind war."

Leise verließen die Worte seinen Mund. Er sah mich gequält an und in diesem Moment fühlte ich seinen Schmerz. Mein starker Bruder, welcher früher immer für mich da war, weinte. Zwei Tränen verließen seine grauen Augen und fielen hinab. Ich biss mir auf die spröden Lippen, doch auch die nächste Frage schlüpfte aus mir heraus. Zulange hatte ich meine Schmerzen und meine Ängste mit mir herumgetragen. „Wieso ignorierst du mich dann?" Wieder durchzuckte ihn ein Schmerzschauer. Sein hübsches Gesicht verzog sich zu einer hässlichen und geplagten Grimasse. Er öffnete den Mund, doch kein Wort verließ seine gepflegten Lippen. Er setzte mehrmals zu neuen Sätzen an, nichts. Immer wieder wandte er den Blick ab, schaute mich wieder an und blickte wieder weg. Verletzt wollte ich meine Hand von ihm lösen, doch er umklammerte inzwischen meine Hand. Ich dachte immer, ich wäre die Ertrinkende, doch gerade ertrank er und ich war sein Fels.
Welch Ironie.
Sorgfältig befeuchtete er seine Lippen und atmete aus. „Ich konnte dich nicht anschauen", gestand er leise und senkte den Blick. Ich zuckte zurück, wobei mein Kopf gegen die Wand knallte. Bei dem Geräusch hob er den Blick. „Nein! Nein es liegt nicht an deinem Gesicht", begann er hektisch. Doch es war zu spät. Seine Worte traten eine Gefühlskaskade los und ließen mich alle schrecklichen Gedanken durchleben, welche mich seit dem Vorfall begleiteten.
Ich war ein Monster für ihn.
Panisch löste ich meine Hand von seiner, strich mir immer mehr Haare vor mein Gesicht und wich seinem Blick aus. Er sollte mich nicht sehen.

„Sammy. Bitte. Sam. Glaube mir. Es liegt nicht an deinem Gesicht, denn ich finde es wunderschön." Er ergriff meine beiden Hände und legte sie mir auf den Schoß. Ruhig strich er mir meine blonden filzigen Strähnen aus dem Gesicht und umfasste mein Gesicht mit beiden Händen. Tränen liefen über meine Wangen. Einerseits wollte ich wegrennen, seiner Berührung entfliehen, doch anderseits wollte ich nur eins: Ihn umarmen. Ich brauchte meinen Felsen, denn ich ertrank gnadenlos und Tag für Tag wurde die Strömung, die mich hinunter zog, immer stärker. Traurig lächelte er mich an und küsste meine Stirn vorsichtig. „Du warst schon immer die schönste Schwester auf der Welt und du wirst es auch immer sein. Ich kann dich nicht anschauen, weil ich dann an meine Fehler erinnert werde." Sein Zeigefinger fuhr sanft über meine zerstörte Wange. Mit jeder seine Bewegung und Berührung wurde meine Atmung hektischer. „Jeden Tag sehe ich dich und ich erkenne, was für ein miserabler Bruder ich war und immer noch bin. Ich war so froh auszuziehen, dass ich mir keine Gedanken über dich gemacht habe. Ich war egoistisch, hatte nur mein eigenes Glück im Sinne und dadrin kamst du nicht vor. Immer habe ich mir eingeredet, dass er dir nichts tun wird. Und weißt du was verrückt ist?" Ein Lachen erschütterte seinen kräftigen Körper. „Tief in meinem Herzen wusste ich es. Ich wusste, dass ich mir nur was vormache und es war mir egal. Je mehr ich mir einredete, dir würde es gut gehen, desto mehr glaubte ich das. Und wenn ich dich jetzt ansehe, so dünn, so zerschunden und kaputt, da wird mir bewusst, dass es meine Schuld ist. Ich bin gegangen und habe nie zurückgeschaut und ich weiß, dass ich diesen Fehler nie wieder gutmachen werde. Und anstatt jetzt alles richtig zu machen, was ich auf Krampf versuche, mache ich alles falsch. Ich ertrage deine Nähe nicht, weil ich mir nicht eingestehen will, was für ein Arschloch unser Vater war." Zischend kamen die letzten Worte über seine Lippen, doch gleich darauf verließ ein Schluchzen seinen Mund. „Ich will es mir einfach nicht eingestehen und immer wenn ich dich sehe...dann wird es real. Und ich will nicht, dass das alles real wird? Verstehst du das?" Mit Tränen in den Augen schaute er mich verzweifelt an.
Oja Bruderherz. Ich verstehe das, denn deine neuen Dämonen sind meine treusten Begleiter seit Jahren.

Broken InsideWo Geschichten leben. Entdecke jetzt