2 Kapitel

13.5K 561 23
                                    

Samantha P.o.V.

Damon und Bastian waren ausgeflogen. Gleich nach dem Frühstück waren sie losgegangen. Besorgungen erledigen.
Ja ne is klar.
Die hatten einfach jetzt schon keinen Bock mehr den Babysitter zu spielen. Ich hätte mich zwar nicht alleine in einem fremden Haus in einem fremden Ort in einem fremden Land gelassen, aber ich war ja nicht sie. Also zog ich mir einen weiten Pullover über und verließ um Punkt zehn Uhr das kleine Hochhaus. Wir wohnten in einem Vorort von London. Sündhaft teuer, aber wer reiche Väter hat, dem gehörte die Welt. Und Daddys Liebling konnte sich eh alles leisten.
Mürrisch zog ich die Schultern hoch und stiefelte los. Mein Ziel war meine neue Schule. Laut Google Maps war sie nur zwanzig Minuten Fußmarsch von hier entfernt. Mein Bruder hatte mir den Namen der kleinen Privatschule vor unserem Abflug erzählt. Ganz begeistert hatte er mir sogar deren Website gezeigt. Meine linke Hand umklammerte fest die kleine schwarze Handtasche. Inzwischen hatte ich mich daran gewöhnt, meine linke Hand zu benutzen. Mit energischen Schritten ging ich den schmalen Gehweg entlang. Dank der regelmäßig Physiotherapie in meine alten Heimat, konnte ich immerhin meine Beine wieder normal bewegen. Die Verletzungen waren gut verheilt und meine Muskeln erinnerten sich an ihre Aufgabe. Der kalte Wind blies mir meine langen blonden Haarsträhnen immer wieder ins Gesicht, doch ich ignorierte es.

Die Landschaft zog an mir vorbei. Große und kleine Häuser. Gepflegte und ungepflegte Gärten. Menschen. Männer und Frauen. Babys und Kinder. Der Vorort erwachte langsam zum Leben. Viele schienen die letzte November Sonne nochmal genießen zu wollen. Anscheinend war ich aber auch die einzige, die fror, denn alle anderen trugen dünne Shirts oder Strickjacken. Die Engländer waren schon ein komisches Volk. Irgendwann verließen mich die Häuser und ein Wald begann rund um die Straße zu wachsen. Urplötzlich war er da. An einer Stelle stand noch ein Haus und Zack, da war auch schon der Wald. Kein sanfter Übergang. Nein, es war ein starker Kontrast zwischen Natur und Stadt. Die Hauptstraße teilte sich wenige Meter später. Entschlossen folgte ich der neuen Straße nach rechts weg. Es war eine neue moderne Straße, welche angeblich nach London führen sollte. Der Wald sollte die Bevölkerung nur vom Lärm der Großstadt trennen. Irgendwie sowas hatte mein Bruder mir erzählt. Auf der breiten Straße waren wenige Autos unterwegs, dafür aber mehrere Fahrradfahrer. Ich wurde von allen angestarrt, das spürte ich. Stur schaute ich weiter geradeaus.

Das Wäldchen endete genauso abrupt wie es angefangen hatte und gab den Blick auf weite Felder und eine riesige qualmende Stadt in der Ferne frei. London. Mein Blick wanderte zu einem Feldweg. Ich schaute nochmal auf Google Maps. Angeblich musste ich da lang. Zögerlich folgte ich diesem. Gerade als ich dachte, ich hätte mich nun komplett verkaufen, entdeckte ich das alte Gebäude. Meine neue Schule war ein altes Herrenhaus, welches zur Privatschule umfunktioniert worden war. Das riesige Backstein Gebäude thronte einsam auf der Lichtung. Die Sporthalle existierte hier anscheinend nicht. Neugierig hob ich nun komplett den Kopf und lief langsam über das große Gelände. Hinter dem mächtigen Schulgebäude gab es einen Sport- beziehungsweise Folterplatz. Nett. Anscheinend wurde hier bei jedem Wetter draußen Sport gemacht. Ich entschied jetzt schon, dass ich durchgehend meine Tagen haben würde. Langsam ging ich weiter und bewunderte sowohl die großen alten Eichen als auch meine zukünftige Schule.

Um genau halb eins betrat ich wieder unsere Wohnung. Ich hatte meinen Spaziergang auf den Wald ausgedehnt und mir die Umgebung angeschaut. Es war ok hier. Es sah aus wie Amerika, nur farbloser.
In Gedanken versunken zog ich meine Schuhe aus und hängte meine Jacke ordentlich auf. Ich wollte gerade einen Schritt nach vorne machen, als die Tür vom Wohnzimmer aufgerissen wurde. Mein leichenblasser Bruder erblickte mich und stürmte auf mich zu. Bevor ich ausweichen konnte, zog er mich in eine feste Umarmung.
Zu nah!
Nach einer gefühlten Ewigkeit ließ er mich los, wobei er mich trotzdem noch am Arm festhielt. Heftig zerrte er mich herum. Vollkommen verspannt stand ich stramm da. Meine aufgerissenen Augen musterten ihn aufmerksam. Seine grauen Augen waren rot unterlaufen und angeschwollen. Er schien geweint zu haben. "Wo zur Hölle warst du", schnauzte er mich grob an und schüttelte mich einmal durch. Befremdlich betrachtete ich ihn. "Was denkst du dir eigentlich? Du kannst doch nicht einfach verschwinden! Ich wäre fast umgekommen vor Sorge! Wir kommen vom Einkauf nach Hause und dann bist du weg. Nicht mal eine Nachricht hast du uns hinterlassen!" Sein Griff wurde immer fester. Panisch suchte ich nach einem Ausweg, doch es ging nicht. Er hatte mich fest in seiner Gewalt. Vor meinem Auge verschwamm alles. Auf einmal sah ich nicht mehr meinen Bruder sondern meinen Vater.
Seine geballten Fäuste.
Seine eisigen Hände.
Seine wütenden Augen.
Seine Alkoholfahne.
Ich weiß nicht, was Basti noch alles sagte. Meine Ohren waren auf Durchzug.

Damon erschien plötzlich hinter mir. Während meine Augen panisch die Haustür hinter Basti anschauten, legte sich auf einmal eine große Hand auf meine Schulter. "Komm runter Basti", sprach er ruhig und löste die Finger meines Bruders von mir. Zitternd stand ich da. Diese ganze Situation hatte mich aus dem Konzept gebracht. "Die Kleine bricht gleich zusammen." Ich wollte hier weg. In meinem Kopf rauschte es. Ich sah alles mal scharf, mal verschwommen. Meine Nerven waren zum Zerreißen angespannt. Die Augen meines Bruders weiteten sich, dann stolperte ein paar Schritte zurück. "O mein Gott. Sam." Vorsichtig machte er einen Schritt auf mich zu, reckte zaghaft seine Hand in meine Richtung. "Sammy", murmelte er sanft, geschockt über seinen Ausbruch eben. Vergessen war seine Wut und seine Sorge um mein Verschwinden. Ich wich zurück. Panisch stolperte ich über Damons Füße, dann machte ich auf den Absatz kehrt und verschwand in meinem kleinen Zimmer. Geschockt ging ich unaufhörlich auf und ab. Das Blut rauschte in meinen Ohren. Ich spürte was nasses auf meinen Wangen. Tränen. Ich hatte gar nicht bemerkt, dass ich geweint hatte.
Er ist wie dein Vater.
Kraftlos ließ ich mich auf mein Bett fallen und lehnte mich auf die Wand. Meine Atmung ging hektisch. Ich umklammerte mit meiner gesunden Hand ein Taschentuch. Eigentlich wollte ich meine Tränen wegwischen, doch im Moment war ich vollkommen aufgelöst. Meine Oberarme taten weh. Mein Bruder hat einen ziemlich festen Griff. Vermutlich würde es blaue Flecken geben.

Die Tür öffnete und schloss sich. Ein Wimmern verließ meine Lippen. Wahrscheinlich würde ich jetzt richtig Ärger kriegen. Einfach nur, weil ich weggelaufen war. Oder weil deshalb. Ich schloss die Augen und ließ den Tränen freien laufen. Die Matratze sackte ein, als sich jemand neben mich setzte. Ich wartete angespannt auf das, was kommen würde. Ich hatte es verdient.
Ich hatte alles verdient.
"Hör mal Samantha", begann er mit rauer Stimme. Ich kniff die Augen fester zusammen, wartete zusammenkauernd auf sein weiteres Handeln. Er seufzte schwer. "Du musst keine Angst vor mir haben. Wirklich. Ich weiß, wir kennen uns noch nicht lange, aber ich tu dir nichts", redete er sanft auf mich ein. Damons Hand berührte mich sanft an der Schulter. Sofort rutschte ich von ihm weg. "Du kannst mich ruhig anschauen." Keine Reaktion meinerseits. "Basti hat es nicht so gemeint. Er war nur kurz vor einem Amoklauf vor lauter Sorge. Du bist ja auch nicht mal ans Handy gegangen. Ich konnte ihn gerade noch davon abhalten, die Polizei zu rufen." Ich schwieg weiterhin. Mein Blick war starr auf den Boden gerichtet. Sanft fuhr seine Hand zu meinem Kinn. Er hob es leicht an, sodass ich ihn ansehen musste. Ich ließ ihn gewähren, wie ich auch meinen Vater immer gewähren gelassen hatte.

Seine langen Haaren fielen ihm ins Gesicht, als wir uns zum ersten Mal richtig ins Gesicht sahen. Ein leichtes Lächeln huschte über sein Gesicht. Sanft wischte er mir die Tränen aus dem Gesicht, wobei ich sofort zurück wich. Mein Kopf knallte gegen die Wand, doch ich ignorierte es. Jeder Schmerz, den ich selbst hervorrief, war angenehmer als irgendwelche Berührungen. "Nimm es deinem Bruder bitte nicht so übel. Er versucht nur krampfhaft alles richtig zu machen. Er will seine Fehler von früher wieder gut machen."
Welche Fehler?
Mein Vater hatte mich misshandelt, nicht er. Er war nur einfach fortgeblieben.
"Am besten hinterlässt du das nächste Mal, wenn du weg gehst, eine kleine Notiz. Dann bricht bei ihm auch nicht so die Panik aus", schlug er sanft vor. Mein gesundes und somit sehendes Auge fixierte ihn wachsam. Seine Hände hatte er sich um die Knie gelegt, welche er nun an seinen Körper zog. Offen erwiderte er meinen Blick. "Ich werde dir nichts tun, versprochen. Also hasse mich nicht gleich von Anfang an!"

Broken InsideWo Geschichten leben. Entdecke jetzt