Samantha P.o.V.
Montagmorgen. Montag. 6 November. Mein erster Schultag. Nervös war ich nicht. Unmotiviert traf es eher. Nachdenklich stand ich vor dem Spiegel im Zimmer. Noch war er nicht verdeckt, also nutzte ich ihn nochmal aus. Meine Brille thronte wieder auf meiner Nase. Auch sie verbarg das Grauen in meinem Gesicht nicht. Geschickt ließ ich meine Locken vors Gesicht fallen. Wenn ich mich nicht hektisch bewegen würde, würde vielleicht niemand mein Gesicht sehen.
Hoffentlich.
Ich packte meine Tasche und ging zum Zimmer meines Bruders. Er wollte mich fahren. Wir hatten am Samstag noch sehr lange gesprochen. Also er hatte gesprochen. Ich hatte bloß geschwiegen und genickt. Er hatte sich anscheinend Sorgen um mich gemacht. Er hatte sich tausend Mal bei mir entschuldigt, doch ich hatte nur mit den Schultern gezuckt. Es war mir egal. Seit Jahren hatte sich niemand mehr um mich gesorgt. Damit sollte er jetzt nicht anfangen.
Überleben kann ich gut.
Trotzdem benahm er sich wie ein aufgescheuchtes Huhn und war andauernd in meiner Nähe. Essen, Trinken, Spaziergänge. Alles machten wir gemeinsam. Es waren erst wenige Tage vergangen, doch ich war jetzt schon wahnsinnig.
Absolut nervig.
Da er es gerne machen wollte, durfte er mich heute auch zur Schule fahren. Vermutlich würde es nicht bei heute bleiben, aber es sollte mir recht sein. Hauptsache, ich musste ihn nicht dafür umarmen. Hauptsache, er bekam seinen Willen. Hauptsache, ich hatte in anderen Sachen meine Ruhe. Lächelnd kam er raus. Wir hatten zwar zusammen gefrühstückt, doch er drückte mich trotzdem nochmal an sich. Ich wich zurück. Jedes Mal das Gleiche. Er würde es wohl nie lernen.Mit dem Handy in der Hand saß ich auf dem Beifahrersitz. Vorsichtig fuhr mein Bruder die kurze Strecke zur Schule.
"Viel Glück in der Schule" Lucas. Ich lächelte leicht, dann tippte ich die Antwort.
"Danke. Dir auch. Bleibe am Leben..." Zwinkersmiley und abschicken.
"Ich doch immer. Du aber auch." Ich wollte keine Antwort schicken. Ich wollte nichts versprechen oder von mir geben, was ich nicht einhalten konnte.
"Versprochen?", schob er hinterher. Ich musste an unser letztes Gespräch denken. Er hatte versprochen, immer für mich übers Handy da zu sein. Vielleicht sollte ich ihm auch entgegen kommen.
"Versprochen." Entschieden steckte ich mein Handy weg. Mehr konnte ich nicht von mir geben.Das Auto rollte inzwischen zwischen den Schülern über den kleinen Weg zum Parkplatz. Schüler wichen im letzten Moment aus. Leider bremste mein Bruder immer rechtzeitig ab. Er fuhr niemanden um.
Ein Jammer.
Ein paar Leichen am Morgen hätten mir die Schule sicher erspart.
"Und bist du bereit", fragte er nachdem wir ausgestiegen waren. Meine Antwort war ein klares Nein, doch ich zuckte nur mit den Schulter. Seufzend schob er sich eine fette Sonnenbrille ins Gesicht und lächelte mich mit seinem Zahnpastalächeln an. War hier irgendwo eine versteckte Kamera oder warum spielte er sich so auf? "Ich begleite dich noch ins Sekretariat und melde dich an." Na super. Wie wollte er mich vorstellen?
Darf ich Ihnen meine gestörte Schwester vorstellen.
Wahrscheinlich wird er genau sowas sagen. Wie sollte man mich auch sonst vorstellen. Mit leicht gesenktem Kopf und den Haaren im Gesicht folgte ich ihm. Die neugierigen Blicke der Schüler lagen unaufhörlich auf uns. Das Getuschel wuchs mit jedem Schritt den wir in Richtung Schule tätigten. Es war schrecklich. Meinen Bruder interessierte es wenig.Das Gespräch im Sekretariat war uninteressant. Ich hörte schon nach zwei Sekunden nicht mehr zu. Mein Bruder schüttelte ein paar Mal irgendwelche Hände und redete kurz mit der Frau. Zu meinem Leidwesen verabschiedete mein Bruder sich sofort und ließ mich in der Hölle alleine. Gequält lächelnd sah ich die Frau an. Sie schien ein Glück meine Frage in meinen Augen zu sehen. Die Sekretärin beschrieb mir mitfühlend lächelnd den Weg. Auf ihr Mitgefühl konnte ich getrost verzichten. Die wusste gar nichts. Mein Bruder wusste nicht einmal die Hälfte. Und er dachte schon, er würde alles wissen. Was dachte die blondierte Ziege dann?
Ich war voller Hass und Wut. Ich merkte es. Woher diese Gefühle kamen wusste ich nicht. Sie waren da. Während meines Weges durch den Gang, verschwanden sie allmählich wieder.
Vor meinem neuen Klassenzimmer holte ich tief Luft. Ich war nun wieder in der Elften. Ich kannte den Stoff. Ich müsste nur eineinhalb Jahre Folter überstehen, dann war ich hier raus. Ich senkte den Kopf, betete das die Klasse zu meiner Rechten sitzen würde und klopfte.
Ein lautes "Herein!", ertönte. Ich biss mir auf meine Unterlippe, dann trat ich ein.Ich hatte Pech. Die Klasse saß mir direkt gegenüber. Neben der Tür befand sich ein modernes Activeboard und ein Beamer zeigte auf die Wand daneben. Wie erstarrt blieb ich kurz stehen. Dann packte mich der Überlebenswille. Ich wirbelte herum, schloss die Tür und strich mir die Haare wieder vor das Gesicht. Niemand sollte meine Narben sehen. Tief atmete ich ein, dann drehte ich mich wieder um. "Ah, du musst Samantha Duncan sein. Der Schulleiter hatte dich schon angekündigt. Freut mich, dass du gleich nach den Ferien kommen konntest", begrüßte mich der übergewichtige Herr vor der Klasse. Mein neuer Lehrer Mr. King. Er grapschte vergnügt nach meiner linken Hand und schüttelte diese. Ich wich automatisch einen Schritt zurück. Meine Gipshand hing nutzlos neben mir. Am Liebsten würde ich ihn damit schlagen. "Willst du dich der Klasse vorstellen", redete er fröhlich spuckend weiter.
Ähm, nein?
Völlig entgeistert sah ich ihn an. Er überbrückte mein Schweigen, indem er in die Hände klatschte und voller Energie verkündete, dass er mich dann vorstellen würde. "Darf ich Euch eure neue Mitschülerin Samantha Duncan vorstellen. Sie ist vor kurzem aus Amerika zu uns ins wunderschöne England gezogen und wird nun hier zur Schule gehen. Bei ihr Zuhause ist es aktuell kompliziert, also löchert das arme Mädchen bitte nicht mit Fragen!"
Kompliziert konnte man es auch nennen. Wobei, ich würde meine Familiensituation eher missglückt und gescheitert nennen, aber ich war einfach nur froh nichts sagen zu müssen.Die Schüler musterte mich mit unverhohlener Neugierde. Ich nahm es ihnen nicht übel. Trotzdem wich ich den braunen, grünen und blauen Augenpaaren aus und schielte lieber auf meine schwarzen Adidas Schuhe. "Setz dich doch neben Jonathan", kommandierte Mr. King mich nun zu meinem Sitzplatz. "Jo! Ich heiße Jo", kam die protestierende Antwort des sportlichen Jungen. "Und ich heiße Jesus. Auf der Namensliste steht Jonathan, also heißt du auch Jonathan", bellte unser dicker Lehrer humorlos als Antwort zurück. Die Klasse lachte verhalten. Anscheinend waren schlechte Witze hier Standardprogramm.
Jonathan, beziehungsweise Jo, schaute mich aufmerksam aus seinen braunen Augen an. Er saß zu meiner Rechten. Ohne ihn anzuschauen, rutschte ich mit dem Stuhl zum Rand des Tisches. Bloß viel Abstand. "Hi", flüsterte er höflich. Ich nickte. "Ich bin Jo." Ich weiß. "Und du bist Samantha, richtig?" Er schien selbst zu merken, dass die Frage blöd war. Leise lachend zupfte er an seiner schwarzen Lederjacke herum. "Wieso wechselst du mitten im Halbjahr?"
"Jonathan Tiberius Carter! Wären Sie so freundlich und würden mir auch etwas von Ihrer Aufmerksamkeit schenken", wetterte die mächtige Stimme unseres Lehrers los und ersparten mir weitere Fragen. Der Angesprochene lief knallrot an, der Rest der Klasse lachte los. "Ich hasse es, dass mein Patenonkel mein Lehrer ist", maulte er herum. "Beschweren kannst du dich beim Direktor", kam prompt der Kommentar zurück. Daraufhin war er still und ich hoffte er würde es sich bleiben. Leider war dem nicht so.
Die Stunde zog an mir vorbei. Lederjacke neben mir wollte andauernd mit mir reden, doch ich hielt den Kopf gesenkt. Ich wollte hier weg. Sofort.
DU LIEST GERADE
Broken Inside
RandomSamantha ist gefallen. Ohne Lucas hat sie ihren Halt im Leben verloren. Er war ihr Fels in der Brandung und hat sie vorm Ertrinken gerettet. Doch nun ist er nicht mehr da. Der Umzug nach England hat sie vollkommen aus der Bahn geworfen und nun versi...