40 Kapitel

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Samantha P.o.V.

Verzweifelt versuchte ich mit meinen kurzen Beinen mitzuhalten. Der hohe Schnee erschwerte mir das Vorankommen  und ließ mich immer wieder innehalten. Meine kleinen Füße waren trotz der dicken Winterstiefel abgefroren. Der kalte Schnee klumpte an meinen Schuhen. Immer mehr weiße Flocken tanzten durch die eiskalte Abendluft und ließen alles noch fantastischer aussehen. Durch die Dunkelheit und die schwebenden Flocken konnte man die Berge erahnen. Es war wunderschön friedlich.
An anderen Tagen wäre ich stehen geblieben, hätte die Zunge rausgesteckt und den Schnee gefangen. Ich hätte mich einschneien lassen und wäre als Schneefrau nach Hause gelaufen. Heute aber nicht.
Es war der erste Geburtstag ohne meine Mutter. Wie immer verbrachten wir Weihnachten in den Alpen in der Schweiz. Der Flug hierher war ätzend lange und jedes Mal eine Herausforderung, doch mein Vater wollte nun mal hier hin.
Also flogen wir hierher.
Weihnachten war kacke gewesen. Mum fehlte mir und Dad war nicht wirklich bei der Sache. Er hatte vergessen, unsere Wunschzettel an den Weihnachtsmann zu schicken. Dementsprechend haben Basti und ich nur Schrott geschenkt bekommen. Natürlich machte ich dem armen Weihnachtsmann keine Vorwürfe. Wie sollte er auch wissen, was wir mögen, wenn Dad unsere Briefen nicht zum Nordpol schickte? Er konnte ja schließlich nicht jedes Kind auf der Welt beobachten.
Mum hatte immer an unsere Briefe gedacht. Einmal hatte sie sogar dafür gesorgt, dass wir den Weihnachtsmann kennen lernen durften. Er war extra in unsere Stadt gekommen und alle Kinder durften ihn treffen. Basti hatte mich ausgelacht, weil ich nicht auf seinen Schoß sitzen wollte. Es war etwas beschämend gewesen, aber ich habe mich einfach nicht so Wohl gefühlt. Ich war viel zu nervös und hatte Angst, dass ich ihn noch anpupsen würde oder so! Das wäre sooooo peinlich gewesen.
Wahrscheinlich dachte der Weihnachtsmann eh, dass ich ihn vergessen hätte. Er hatte ja keinen Brief von mir bekommen.
Mum wäre sowas nie passiert.

Eine Träne rannte über meine gerötete Wange und gefror augenblicklich. Die kalte Luft zerschnitt meine weichen Wangen und ließen sie brennen. Wie Messer zerhackten sie meine spröden Lippen bis diese anfingen zu bluten. Trotzdem lief ich weiter. Der Weg war weiter als ich ihn in Erinnerung hatte. Eigentlich wollte ich nur schnell zu Mums Lieblingsplatz, aber irgendwie war ich jetzt schon viel zu lange unterwegs. Meine verdammten kurzen Beinchen verloren jeden Kampf mit dem Schnee. Andauernd blieb ich stecken, fiel hin oder rutschte aus. Meine Handschuhe und meine Jacke waren genau wie meine restliche Kleidung komplett durchnässt. Doch sowas hielt mich nicht auf. Morgen war mein Geburtstag und ich wollte unbedingt vorher nochmal bei Mums Platz vorbeischauen. Das hatte ich ihr schließlich versprochen! Dad weigerte sich vehement dagegen, diesen Platz auch nur zu nahe zu kommen.
Also war ich heimlich aufgebrochen. Morgen war schließlich mein achter Geburtstag. Ich war ja kein Kind mehr. Und doch, obwohl ich schon fast erwachsen war, hatte ich mich anscheinend verlaufen.
Frustriert trat ich nach dem Schnee. Da ich Widerstand erwartete, aber keiner da war, fiel ich mit Schwung in den Pulverschnee. Das kalte Nass fraß sich wieder in meine Kleidung und ließ meine Haut brennen, so kalt war mir. Komplett überfordert mit der Welt, schob ich meine Unterlippe vor und ließ die aufgestauten Tränen raus. Das warme Salzwasser fühlte sich wie Feuer auf meiner Haut an. Ich wollte doch bloß Mum besuchen. Das Leben war so unfair!
Still weinend haute ich in den Schnee und ließ meine Wut auf die grausame Welt so raus. Wie lange ich in dem hohen Schnee saß und der Dunkelheit einen vor heulte, wusste ich nicht. Plötzlich schlangen sich zwei Kinderarme um mich und zerrten mich auf die erfrorenen Füße. „Samantha Alicia Duncan! Bist du komplett bescheuert? Wie kannst du einfach abhauen", schrie mein Bruder mich durch den Wind und den fallenden Schnee an. „Du bist doch auch abgehauen", schluchzte ich bockig und verschränkte meine Arme vor meiner Brust. „Ich bin deinen Spuren gefolgt! Das ist ein großer Unterschied", knurrte mein Bruder und zog mich in eine Umarmung. Grob rubbelte er meine Gliedmaßen durch und brachte etwas Wärme in meinen Körper. „Was machst du überhaupt hier draußen?" „Ich wollte zu Mum", heulte ich los und klammerte mich an meinen großen Bruder. „Da hast du dich aber mächtig verlaufen", kommentierte er meinen Versuch trocken und schob mich vorwärts. „Lass uns nach Hause gehen. Wir besuchen sie morgen, ok?" Bibbernd nickte ich und zog geräuschvoll die Nase hoch. „Und jetzt lass uns hoffen, dass Dad nichts von deiner Nachtwanderung mitbekommen hat."

Gedankenverloren betrachte ich die Bilder in einem alten Fotoalbum, welches ich bei Basti im Zimmer gefunden hatte. Es zeigte Bilder von unserem letzten gemeinsamen Weihnachten als komplette Familie. Längst tot geglaubte Erinnerungen krochen wieder hoch und durchfluteten meinen Kopf. Bei fast jedem altem Bild überfielen mich die schönen und bunten Kindheitserinnerungen. Trotz der schillernden Farben und der tollen Zeit, war ein Schleier der Trauer über die Erinnerungen gezogen. Die Erkenntnis, dass ich mich nicht mehr an meine Mutter erinnern konnte, brach mir das Herz.
In meinem Kopf war sie größer, doch sie wirkte auf den Bildern relativ klein.
In meinen Erinnerungen war sie abartig dünn, doch das war sie nie gewesen. Erst zum Schluss.
In meinen Gedanken war sie immer positiv und mit einem Funkeln in den Augen. Selbst als sie kurz vor dem Tod stand, war sie immer am Lächeln gewesen. Doch auf den meisten Bildern hatte sie tiefe Schatten unter den Augen.
Sie war immer meine Heldin gewesen, doch irgendwie schien das nur ein Trugbild gewesen zu sein.
Entschlossen klappte ich das Buch zu und knallte es auf den Tisch. Morgen war mein Geburtstag und ich nahm ihr verdammt nochmal übel, dass sie nicht hier war. Sie hatte mich verlassen und als ich ihr folgen wollte, hatte sie mich wieder von sich gestoßen. Nichtmal in den Tod konnte ich ihr folgen.
Das Tod nie eine Lösung war, wusste ich. Und doch formte sich in meinem Kopf eine Idee, wo der Tod sehr wohl die Lösung war.

Broken InsideWo Geschichten leben. Entdecke jetzt