61 Kapitel

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Samantha P.o.V.

Tränen werden auf ewig ein Zeichen der Schwäche bleiben. Und schwach war ich definitiv. So oft wie ich weinte, war ich das verweichlichste und schwächste Mädchen auf diesem Kontinent, vermutlich auf der ganzen Welt. Jedes Kleinkind konnte sich schminken.
Was kannst du eigentlich?
Ein Schluchzten entwich meinen Lippen. Zitternd rollte ich mich zu einer Kugel zusammen. Der fiese Stich von Einsamkeit durchbohrte mein Herz und ließ mich erneut aufschluchzten. Mein von Tränen und Rotz verschmiertes Gesicht ruhte nun auf meinen dünnen Knien. Ich fühlte mich elendig nutzlos. Immer mehr Flüssigkeit durchtränkte meine Hose. Die Sehnsucht nach meinem alten Leben, welche ich so erfolgreich verdrängt hatte, überrollte mich. Meine Atmung wurde immer heftiger. Je mehr Zeit verging, desto stärker wurden die Bilder in meinem Kopf.
Bilder von Hannah und mir.
Bilder von Lucas und mir.
Bilder von meinem Bruder und mir.
Bilder von meiner Mutter und mir.
Bilder von meinem Vater und mir.
Und mit diesen Bildern kam auch die Übelkeit.
Mit einer hektischen Bewegung fegte ich den Spiegel von der Toilette, welcher gegen die Wand knallte und zersprang. Die sieben Jahre Pech würden mir auch nicht mehr Schaden zufügen als ich es mir selbst schon antat. Verflucht war mein Leben eh schon. Mit den Füßen schmiss ich meine MakeUp Utensilien auf dem Boden um und verteilte sie im ganzen Bad. Tränen versperrten meine Sicht und so tastete ich blind nach dem Toilettendeckel und hob diesen an. Sekunden später bäumte sich mein Körper auf und ein Würgen bildete sich in meinem Rachen. Krampfartig zuckte ich zusammen und wischte mir die Tränen aus den Augen. Immer mehr Bilder fluteten meinen Geist und ich hasste mich dafür.
Ich hasste mein altes Ich, wie es lachend mit Hannah durch die Stadt zog.
Ich hasste mein altes Ich, weil es unbeschwert wirkte.
Ich hasste mein altes Ich, weil es unversehrt aussah.
Ich hasste mein altes Ich, weil es nie was gesagt hatte.

Galle stieg mir hoch und dann gab es keinen Halt mehr. Ich übergab mich. Mal wieder. Verkrampft umklammerte ich die Toilette und übergab mich immer wieder. Dank meines geliebten Würgreflexes konnte ich nicht mehr aufhören. Einmal angefangen, steigerte sich mein Körper und Geist immer mehr rein und es gab kein Ende mehr. In weiter Ferne bekam ich mit, wie die Haustür aufgeschlossen wurde und Schritte zu hören waren. Vermutlich würde mein Bruder gleich ins Bad kommen, einen Herzinfarkt erleiden und dann hilflos neben mir stehen bleiben, nur um dann eine Schimpftirade zu starten und sich danach zu entschuldigen. Alleine dieser Gedanke trieb mir die nächsten Tränen in die Augen und mein Magen bäumte sich erneut auf. Verzweifelt versuchte ich mir ein Stück Toilettenpapier abzureißen, doch ich erreichte die Rolle nicht. Es war wieder einer dieser Momente, wo ich mich verfluchte. Wieso musste mich inzwischen alles aus der Bahn werfen? Früher war es besser gewesen.
Da warst du kalt wie Eis.
Wie ich es befürchtet hatte, wurde die Badezimmertür in diesem Moment aufgestoßen. Schwere Schritte erklangen und Sekunden später lag eine warme Hand auf meinem Rücken. Damons Geruch nach teurem Rasierwasser, Deo und Kaffee hüllte mich ein. Stumm reichte er mir das gewünschte Toilettenpapier, damit ich mir endlich den Speichelfaden und Gallerest von meinen Lippen wischen konnte. Entkräftet fiel ich zurück, woraufhin er sich über mich beugte und die Spülung betätigte. „Ich hatte ja schon viele Begrüßungen, aber das jemand sich vor lauter Freude übergibt, ist mir neu. Ich fühle mich geehrt", schmunzelte er und zog mich fest an seine Brust. Jeden anderen hätte ich weggestoßen, aber ihn nicht. Erst jetzt fiel mir auf, wie sehr er mir gefehlt hatte. Seine kräftigen Arme umschlossen meinen zitternden Körper und er setzte sich auf den Boden. Angelehnt an die Wand zog er mich auf seinen Schoß und streichelte ruhig über meinen Rücken. Immer mehr Tränen bildeten sich und rollten über meine Wangen. Diesmal waren es Tränen der Trauer gemischt mit Tränen des Frustes und der Freude. Zaghaft ertastete ich seinen Körper und schlang meine Arme um ihn.

„Alles wird gut", murmelte er immer wieder. Langsam verstummte mein Schluchzen und auch meine Tränen bleiben weg. Trotzdem ließ ich mein Gesicht auf seiner Brust und sog seinen beruhigenden Geruch auf. Sein helles T-Shirt würde jetzt sicher verfärbt und nass von meinen Tränen und meinem MakeUp sein. Er streichelte weiter über meinen Rücken. Ab und an fuhr er mit seiner Hand durch meinen Zopf und entwirrte die Haare sanft. Endlich hatte ich genügend Mut und hob den Kopf. Vorsichtig rutschte von seinen Beinen runter und starrte peinlich berührt auf den Boden. Sein Shirt trug eine schöne Spur aus Glitzer und Mascara.
Gott, wenn es das bemerkt bin ich fällig.
Alleine der Gedanke an seine Reaktion trieb mir wieder Tränen in meine Augen, welche langsam auf den Boden tropften. Ganz langsam hob er seine rechte Hand und berührte mein Kinn. „Hey Kleine. Was ist? Willst du mich nicht mal begrüßen? Oder zum mindestens anschauen", lächelte er und hob meinen Kopf. Gezwungenermaßen sah ich ihm in sein freundliches Gesicht. Wie so oft trug er einen drei Tage Bart. Seine längeren Haare hingen zerzaust um sein Gesicht herum. „Es tut mir leid", erwiderte ich und schielte zu dem verunstalteten Oberteil. Verwirrt folgte er meinem Blick, dann lachte er auf. „Das hier? Mein Gott. Ich wollte den alten Fetzen eh entsorgen. Alles alles gut. Und ich bin mir eh sicher, dass man es raus gewaschen bekommt", grinste er und fuhr über den Fleck. Alt war es sicher nicht. Das Poloshirt sah sogar sehr neu aus. Trotzdem wusste ich seine Bemühungen zu schätzen und zwang mich zu einem Lächeln. „Na bitte. So gefällst du mir schon besser", lächelte er und ergriff ein Feuchttuch aus meinem Chaos. Sorgfältig und ganz ruhig wischte er mir über die Wangen und unter meinen Augen entlang. „Deine Augen musst du selbst machen. Ich habe Angst dir wehzutun."

Bei seiner Entschuldigung hätte ich beinahe laut aufgelacht. Zum einen tat ich mir selbst andauernd weh und zum anderen war er sicher der einzige Mensch auf der Welt, der mir nicht wehtun wollte.
Abgesehen von Lucas.
Sein Blick glitt auf das Chaos um uns herum. Kurz zuckte sein rechtes Augenlid, dann begann er still ein paar Sachen wieder in meine Kulturtasche zu räumen. Kurz beobachtete ich ihn dabei, dann erhob ich mich und starrte mich im großen Spiegel an. Eine grässliche Fratze mit gereizter Haut und verklebten Wimpern schaute mich trotzig an. Seufzend begann ich meine Augen vom Make-Up zu bereinigen, während Damon die Scherben zusammenfegte und mithilfe eines Handbesens und der kleinen Schaufel den Haufen in einen Müllbeutel fallen ließ. Beim Klirren zuckte ich zusammen, presste die Lippen aufeinander und schämte mich für mein Ausrasten. Ich wünschte mir, ich könnte mein Handeln kontrollieren, doch ich konnte es nicht. Sobald die Gefühle kamen, überrollten sie mich und überwältigten meine halbzerstörte Schutzmauer. Dann verlor ich komplett die Kontrolle über mich und meine Taten und schon hatte man den Salat. Damon legte seine Hand auf meine Schulter und brachte mich zurück in die Realität. „Du duscht jetzt erstmal, pflegst deine Haut und ich haue uns eine Pizza in den Ofen", lächelte er. Ich wollte widersprechen, doch seine Augenbrauen zogen sich zusammen und sahen mich leicht finster an. Also nickte ich hastig und entzog mich seiner Berührung. Als er den Raum verlassen hatte, starrte ich mich im Spiegel an. Er musste doch auch denken, ich wäre das totale Kleinkind. „Contenance, Sam. Contenance. Reiß dich zusammen. Du bist volljährig und nun fang an dich so zu benehmen", befahl ich mir selbst, doch irgendwie glaubte ich mir nicht.

Broken InsideWo Geschichten leben. Entdecke jetzt