72 Kapitel

5.5K 276 22
                                    

Samantha P.o.V.

Die erdrückende Stimmung Zuhause wurde für mich immer schlimmer. Sie erinnerte mich regelrecht an die Zeit zurück, wo meine Mutter schwer krank war. Da war bei uns auch jeden Tag die schlimmste Stimmung der Welt gewesen. Und genau diese geladene Atmosphäre voller Hass, Abneigung, Unsicherheit und Panik lag lag jetzt über unserer Wohnung. Allerdings konnte ich guten Gewissens sagen, dass von mir nur die letzten beiden Emotionen kamen. Damon und Basti gaben sich zwar alle Mühe ihre Abneigung zu verbergen, doch es gelang ihnen einfach nicht. Sie aßen inzwischen zu unterschiedlichen Zeiten und waren sehr selten gleichzeitig Zuhause. Und zwischen den beiden Dummköpfen stand ich.
Ein wahr gewordener Albtraum.
Ab und an trafen die Kampfhähne aufeinander. In solchen Moment wollte ich lieber von einem Blitz getroffen werden, als mit ihnen in einem Raum zu sein. Alternativ hätte ich mich auch Gollums Ring ins Feuer hinterher gestürzt oder mich mit dem dunklen Lord Voldemort persönlich angelegt. Aber ich möchte jetzt auch nicht allzu wählerisch sein. Ich würde einfach nur alles andere bevorzugen. Stattdessen saß ich aber mit den beiden Hohlbratzen in einem Raum fest und musste deren künstliche Freundlichkeit ertragen.

„Magst du mir mal das Salz reichen", fragte Damon betont freundlich. Es war einer der seltenen Abende, wo wir zusammen Abendbrot aßen. Es lag aber vielleicht auch daran, dass morgen der letzte Gerichtstermin war und keiner dem anderen gönnte, mit mir alleine Zeit zu verbringen. Das ich gerne alleine mit mir selbst Zeit verbracht hätte, wurde gekonnt ignoriert.
„Nimm's dir doch", brummelte Bastian mit vollem Mund. Bevor Damon was sagen konnte, nahm Basti es und stellte es laut vor seinem ehemaligen besten Freund auf den Tisch. Ich zuckte zusammen. „Dankeschön. Zu gütig von dir", gab Damon eisig von sich. Selbst die weißen Wanderer in Game of Thrones waren netter mit den Menschen, welche sie umbringen wollten, umgegangen. Wahrscheinlich wäre es in deren Mitte sogar wärmer gewesen als hier an diesem Tisch. Basti lächelte Damon falsch an. Dieser hob eine Augenbraue, schwieg aber. „Reichst du mir mal den Pfeffer", fragt nun Basti provozierend ruhig. Da Damon auch ein Kerl war und somit ein großes Ego besaß, schnitt er sich ein Stück Fleisch ab und schob es sich in den Mund. „Nimm's dir doch", nuschelte er süffisant lächelnd, nur um meinem Bruder dann den Pfeffer vor die Nase zu knallen. Wieder zuckte ich zusammen.
Ich will hier weg!
„Dankeschön. Zu gütig von dir", strahlte Basti falsch. Ein eisiger Schauer lief mir über den Rücken. Mein Appetit war mir komplett vergangen. Kommentarlos legte ich das Besteck auf meinen fast unangetasteten Teller und stand auf. „Nacht", nuschelte ich und rannte schnell aus dem Zimmer. Am liebsten wäre ich ganz raus gelaufen, aber das ging leider nicht. Ich saß hier in der Wohnung fest.

Im Zimmer angekommen ließ ich mich sofort zu Boden gleiten. Schwer atmend rammte ich mir meine inzwischen langen Fingernägel in die Handflächen. Ich schloss die Augen und lehnte mich an die kühle Wand neben der Tür. Die ganze Situation war einfach nur erdrückend. Seit Wochen schlief ich kaum noch und ans Essen zu mir nehmen war nicht mehr zu denken. Mein Herz pochte wie wild gegen meinen Brustkorb. Mit jedem Atemzug dehnte sich mein Bauch gegen meine deutlich erkennbaren Rippen. Ich fühlte mich schrecklich.
Ich war machtlos.
Mal wieder war ich anderen Menschen hilflos ausgeliefert und musste zuschauen, wie sie fröhlich dabei waren mein Leben zu ruinieren. So sehr sie auch das Beste für mich wollten, so sehr ließen sie sich auch vom Testosteron leiten. Sie schienen gar nicht mitzubekommen, wie ihr kleiner Kampf sich auf mich auswirkte. Immer noch zitternd erhob ich mich und kroch auf mein Bett zu. Kraftlos ließ ich mich reinfallen und schloss schmerzgepeinigt die Augen. Jede Bewegung war auf einmal extrem anstrengend geworden. Als hätte ich alle Muskeln verloren, klappte ich komplett zusammen. In dem Momenten indem ich die Decke über mich zog und mich zu einer Kugel zusammenrollte, brach ich in Schweiß aus. Trotz der Wärme zitterte ich unaufhörlich weiter. Vor meinem inneren Auge spielten sich Erinnerungen an meinen Vater ab. Ab und an erschien mein Bruder. Was immer wieder auftrat, war die Erinnerung an seinen Streit mit Damon. Gequält biss ich mir auf die Unterlippe. Die beiden waren so gute Freunde gewesen und nun war ich der Grund, dass sie sich gegenseitig zerstören wollten. Damon hatte gestern verkündet, dass er definitiv nächste Woche ausziehen würde. Basti hatte es gelassen hingenommen und dann Sonja gefragt, ob sie nicht einziehen wollen würde. Wäre ich nie hierher gezogen, wäre es es nie soweit gekommen.

Schritte vom Flur rissen mich aus meinem Strudel aus Angst und Panik. Verkrampft hielt ich die Luft an und lauschte. Meine Tür wurde geöffnet. „Sam", fragte mein Bruder leise. Als ich schwieg, ging er wieder. Vorsichtig schloss er die Tür. Erleichtert atmete ich aus. Allmählich beruhigte sich mein Körper und ich konnte ruhiger atmen. Auch das Zittern verschwand langsam. Es schien eine Ewigkeit der Stille und Ruhe zu vergehen, als meine Tür sich erneut öffnete. Schwere Schritte ertönten. „Sam", fragte nun Damon. Statt wie mein Bruder wieder abzuhauen, hockte er sich neben mein Bett. Verzweifelt schaute ich die Wand an und versuchte ruhig weiter zu atmen. „Ich weiß, du schläfst sicher schon", begann er leise zu flüstern. „Aber ich wollte dir nur nochmal sagen, dass es mir unendlich Leid tut. Ich wollte eben beim Abendessen nicht so laut und heftig sein. Verzeihst du mir, Kleine?" Natürlich schwieg ich. Er seufzte leise. „Ich hoffe so sehr, dass morgen das richtige Urteil gefällt wird und es für dich alles besser wird. Und jetzt schlaf weiter. Du brauchst den Schlaf." Erst dachte ich, er würde jetzt rausgehen, doch er blieb. Lange schwieg er und fast hätte ich mich schon umgedreht, dann sprach er leise weiter. „Weißt du, ich habe dir das nie erzählt, aber du erinnerst mich an meine kleine Schwester. Ihr seid beide so schlaue, wunderschöne und liebevolle Menschen. Sie war damals einer der  Gründe, dass ich Medizin studieren wollte. Neben meinem Bruder natürlich. Sie hatte sich ein Bein gebrochen und ich hatte ihr nicht helfen können. Also habe ich beschlossen, dass ich niemals wieder so machtlos sein möchte. Und als ich von dir und deiner Geschichte gehört habe, da habe ich mich so machtlos wie noch nie gefühlt. Mir war klar, dass ich alles tun möchte, damit es dir besser geht. Und wenn ich dafür mit meinem besten Freund brechen muss, dann ist es halt so. Aber ich kann dich einfach nicht mehr leiden sehen." Fast war es mir, als würde er mir durchs Haar streichen wollen. Doch dann hielt er inne, stand auf und ging zur Tür. Während er rausging, verließen einige Tränen meine Augen. Damon war ein wundervoller Mensch und ich war kurz davor ihm das Herz zu brechen.

Broken InsideWo Geschichten leben. Entdecke jetzt