73 Kapitel

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Samantha P.o.V.

Lange lag ich wach. Irgendwann nach drei Uhr stand ich auf, packte meine kleine Umhängetasche und verfrachtete mein Portemonnaie mit dem gefälschten Ausweis und die Rasierklinge hinein. Lautlos zog ich mir eine dicke schwarze Jacke an und öffnete meine Zimmertür. Im Flur herrschte absolute Dunkelheit und Stille. Mit Hilfe des blassen Lichtes von meinem Handydisplays ging ich zur Haustür, nahm leise meine Schuhe in die Hand und huschte hinaus auf den Hausflur. Unsere Wohnungstür schloss ich vorsichtig hinterher. Nachdem ich tief durchgeatmet hatte, zog ich meine Schuhe an und rannte eilig die Treppe hinunter. Hastig riss ich die Haustür auf und hätte sie fast laut ins Schloss fallen lassen. Im letzten Moment fing ich sie ab und schloss die schwere Tür leise. Da es erst Februar war, herrschte draußen eine eisige Kälte. Im Licht der Laternen konnte ich meinen Atem deutlich sehen. Trotzdem ging ich zügig durch die sternenklare Nacht. Kein Mensch, kein Auto, kein Tier. Niemand war draußen unterwegs. Es herrschte absolute Windstille.

Während des Gehens legte ich meinen Kopf in den Nacken und schaute den Neumond an. Hell leuchtete er als dünne Banane am Himmelszelt und schien auf mich herabzuschauen. Wie gerne wäre ich bei ihm. Dann wäre ich weit weg von all den Problem und hätte meine Ruhe. Bei jedem meiner hektischen Schritte klatschte die Umhängetasche gegen meinen Oberschenkel. Zitternd vergrub ich meine Hände in den Jackentaschen und begann noch schneller zu gehen. Vor dem Waldweg holte ich mein Handy heraus und machte die Taschenlampe an. Kurz hielt ich inne, dann atmete ich tief durch und schritt in die pure Dunkelheit der Nacht. Durch die dichten Nadelbäume drang kaum Licht auf den Waldboden durch und somit sah ich nur alles im Bereich meiner Lampe. Ab und an sah ich leuchtende Augen im Gebüsch neben mir, doch die Tiere hatten genauso sehr Angst vor mir wie ich vor ihnen. Trotzdem war es gruselig. Hier im Wald war es nicht still. Die Tiere gaben allerhand Geräusche von sich. Mal hörte ich eine Eule rufen, dann hörte ich Schritte neben oder hinter mir. Immer schneller lief ich den breiten Weg entlang, bis ich am anderen Ende des Waldes ankam. Es war inzwischen vier Uhr und auf der schmalen Landstraße vor mir herrschte Leere. Dennoch lief ich im Schatten der Bäume am Fahrbahnrand entlang.

Mein Ziel war die Brücke. Zehn Meter unter der Straße verlief ein relativ großer Fluss. Dank der tausend Warnungen der Lehrer wusste ich, dass der Fluss recht tief war und vor allem eine starke Strömung unter der Oberfläche hatte. Anscheinend war diese Brücke hier ein regelrechter Hotspots für Selbstmordversuche. Die meisten Menschen, die sich hier hinunter stürzten, überlebten nicht. Allerdings musste man auch sagen, dass viele wohl an Folgen von Mutproben ums Leben kamen. Seit Lucas Versuchen mir schwimmen beizubringen, war ich nicht mehr ins Wasser gegangen. Meine Chancen zu ertrinken waren also groß. Eigentlich hätte ich mich gerne mit Tabletten ins Jenseits geschossen, aber Damon verschloss alles an Medikamenten in einem Schrank im Bad. Dies machte er allerdings erst seit einigen Wochen.
Vermutlich ahnte er etwas.
Vorsichtig lehnte ich mich ans hüfthohe Geländer. Es war wohl nie erhöht worden. Kurz lachte ich auf. Kein Wunder, dass es den Jugendlichen nicht schwer viel über das Geländer zu klettern und zu springen. Mein Handy packte ich in die Tasche und holte stattdessen die Rasierklinge hervor. Endlich hatte ich Ruhe. Ich zog die Jacke aus und legte sie mit der Tasche neben mich. Trotz des Windes, der hier wehte, fror ich nicht. Eine eisige Ruhe hatte sich über mich gelegt. Wie in Trance hob ich die Klinge an und führte sie an meinen linken Arm. Sanft glitt sie über meine Haut und schnitt leicht ins Fleisch. Blut drang heraus und einzelne Tropfen verließen die Wunden.
Endlich.
Wie eine Drogensüchtige schloss ich die Augen und umarmte den Schmerz begeistert. Der zweite Schnitt wurde tiefer. Deutlicher als eben floss das warme Blut über meinen Unterarm und tropfte hinunter in den Fluss. Abwesend beobachtete ich das dunkle Blut. Ich legte die Klinge aufs breite Geländer und fuhr mit dem Finger über meinen Schnitt. Die dickflüssige Substanz blieb an meinem Zeigefinger haften. Kurz sah ich auf das Blut im Schatten des Mondes an, dann wischte ich mir den Finger wieder ab und nahm die Klinge erneut.

Ich hob meine linke Hand und schnitt mir einen kleinen Cut in den Ringfinger. Sofort quoll ein Blutstropfen hervor. Fasziniert beobachtete ich, wie der Tropfen langsam über meinen langen Finger rollte und schließlich auf das Gelände fiel. Grace dachte, ich würde meinen Tod vortäuschen und dann abhauen. Doch ich hatte sie angelogen. Ich wollte nicht mehr. Das Abhauen brachte Risiken mit sich und die war ich nicht gewillt einzugehen. Ich wollte nicht wiedergefunden werden. Ich wollte es beenden. Für sie bedeutete beenden, einen Neuanfang einzugehen. Für mich bedeutete es, alles zu beenden. Und somit hatte ich beschlossen, dass ich mir vor dem Sprung noch einige Schnitte verpasste, um ja nicht zu überleben. Der Tod wäre qualvoll, doch es war mir egal.
Ich verdiene es eh nicht anders.
Ich sank auf die Knie und holte mit blutverschmierten Händen mein Handy hervor. Es dauerte einige Sekunden, dann war es entsperrt. „Du bist die Beste. Vergiss das nie. Und du kannst alles schaffen", lautete Grace letzte Nachricht. Ich hatte sie gestern nicht mehr gelesen. Eine Träne lief mir über die Wange. In meinem ganzen Leben war sie meine beste Freundin gewesen und nun war ich kurz davor sie zu verraten. Ich war ein schrecklicher Mensch.
Ein Monster!
Ich ließ das Handy auf meine Jacke fallen und lehnte mich über das Gitter. Zitternd ergriff ich wieder die Klinge und fügte mir einen weiteren Schnitt zu. Schmerz schoss mir durch den Arm.
Es tut mir so Leid, Grace.
Tränen rannten wie verrückt über meine Wange. Ich biss mir auf die Lippen, um nicht vor lauter Zerrissenheit loszuschreien. Dennoch wagte ich einen weiteren Schnitt neben den anderen.
Bitte verzeih mir, Lucas.
Der Gedanke, die beiden tollsten Menschen in meinem Leben zurückzulassen, zerbrach mich fast entzwei. Ich schrie laut auf und ließ den Gefühlen freien Lauf. Mit dem nächsten oberflächlichen Schnitt tropfte noch mehr Blut ins dunkle Wasser und auf das metallische Gelände.
Bitte versteh mich, Damon.
Damon war wunderbar. Ich wollte es ihm nicht antun, doch ich konnte nicht anders. So egoistisch meine Gedanken auch waren, ich wurde sie nicht los. Die ganze Ungewissheit über meine Zukunft, die Schmerzen der letzten Woche, meine Qualen der Vergangenheit. Alles sammelte sich in mir an und brach mit einem weiteren Schrei hervor. Heulend hing ich über dem Geländer.
Damon. Lucas. Grace. Bitte. Bitte seid nicht sauer.
Durch den nächsten Schnitt verlor ich immer mehr die Kontrolle über mein Bewusstsein. Am Rande meiner verschwommenen Wahrnemung bekam ich mit, dass ich wohl die letzten Schnitte tiefer als gedacht gesetzt hatte. Meine alten Narben waren durch das warme Blut nicht mehr sichtbar. Schwer atmend schaute ich auf das schwarze Wasser unter mir. Die Sterne spiegelten sich in den sanften Wellen. Es sah so friedlich aus.
Ich kann nicht mehr. Grace. Damon. Lucas. Ich liebe euch.

Broken InsideWo Geschichten leben. Entdecke jetzt