36 Kapitel

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Samantha P.o.V.

Wenn ich jetzt sagen würde, dass mich kaum etwas aus dem Rhythmus bringen konnte und ich durch und durch ein unbeeinflussbarer Mensch war, würde ich lügen. Jede Kleinigkeit beeinflusste mein Handeln und jedes noch so kleines Wort konnte mich aus meinen Tagesrhythmus bringen. Es war dieser nette kleine Schmetterlingseffekt. Eine Kleinigkeit brachte eine andere Sache ins rollen und sofort hatte man eine riesengroße Lawine, welche die ganze Welt ins Chaos stürzte. In meinem Fall sorgte die Anwesenheit eines Menschen, dass meine Gefühle durchdrehten. Ich war vollkommen mit mir selbst und meinem Leben überfordert. Nicht, dass es vorher besser gewesen wäre, aber nun spürte ich richtig, wie alles komplett aus den Fugen geriet.
Grausam.
Mir war, als würde mir jemand einen Spiegel vor die Nase halten und ich würde mich selbst aus der Sicht eines anderen beobachten. Nicht gerade der schönste Anblick. Meine Gedanken überrollten meinen Kopf und nicht mal die Tabletten brachten Klarheit in das Chaos, was in mir herrschte. Die doppelte Dosis machte mich einfach nur schrecklich müde. Das, und vermutlich auch die Tatsache, dass ich die Nacht schlaflos verbracht hatte, sorgte jedenfalls dafür, dass ich jetzt mit riesigen Augenringen gegenüber Lucas auf den Boden meines Zimmers saß und in einer Tour gähnen musste.

„Wir haben halb zehn am Morgen. Wie kannst du da nur müde sein", lachte er und lehnte sich an mein Bett. Kraftlos nickte ich zu meinem Nachttisch, wo die leere Tablettenpackung lag. Basti gab mir immer nur eine Packung für eine Woche, damit ich mich ja nicht abfüllte. Tja, diese Woche bestand wohl aus fünf anstatt aus sieben Tagen, denn die Packung war leer. Mit zusammengekniffenen Augenbrauen und gerunzelter Stirn kämpfte er sich durch die Informationen, beließ es dann aber dabei. Diskutieren wäre eh sinnlos gewesen. Ich war zu kraftlos um irgendwas zu sagen. Kopfschüttelnd legte er die Packung zurück, dann wandte er sich mit einem leicht gezwungenen Lächeln mir zu. „Ich soll dich übrigens herzlich von meiner Mutter grüßen. Sie vermisst dich." Ich nickte nur. Was sollte ich auch anderes tun? Ich vermisste niemanden aus Amerika. Das hatte ich aufgegeben. Mir war, als wäre mein altes Leben in Vergessenheit geraten. Ich versuchte verzweifelt alles auszublenden und trotzdem rannte ich ein Rennen, welches ich schon längst verloren hatte. Man konnte nicht gegen seine Vergangenheit ankommen. Sie holte einen immer wieder ein. Immer wenn man dachte, man wäre ihr entkommen, überrannte sie einen und triumphierte über ihren unfairen Sieg.
Schweigend saßen wir also hier. Er hatte es aufgegeben zu reden, denn es gab nichts mehr zu bereden. Zwischen uns war eine Kluft. Die anfänglich kleine Spalte war inzwischen zu eine richtigen Klippe geworden und trennte uns um Millionen von Kilometer. Es war schrecklich. Ich wollte nicht so sein, doch irgendwas hielt mich gefangen. Ich fühlte mich fremd. Andauernd wollte ich mit ihm reden, doch bevor ich einen Gedanken aussprechen konnte, verschwand er wieder und mein Kopf wurde leer. Es war, als wollte mein Gehirn nichts mit Lucas zu tun haben. Und so saß ich ihm gegenüber. Er lehnte an mein Bett, ich an meinem Schrank. Stille herrschte zwischen uns.

Schließlich erhob er sich so abrupt, dass ich hektisch aufsprang und wie erstarrt ihm gegenüber stand. Mein Körper versteifte sich automatisch, während ich panisch aufatmete und mich gegen den Schrank presste. Schnelle Bewegungen von anderen Menschen waren nichts für mich. Immer vermutete ich das Schlimmste und seitdem ich kaum noch was sehen konnte, war meine Paranoia noch schlimmer geworden. Sofort erstarrte er in seinen Bewegungen. Wachsam sahen wir uns an. Schritt für Schritt kam er auf mich zu. Die Distanz zwischen uns, welche eben unbeschreiblich groß gewesen war, war auf einmal viel zu klein. So weit wie er eben weg gewesen war, so nah war er nun. Atemlos hob ich den Blick und sah ihn unsicher an. Panik durchlief meine Adern. Die Angst beschlagnahmte meine Muskeln und ließ sie zu Beton erstarren. Schwer wie Blei fühlten sich meine Knochen an. Ich war nicht in der Lage mich zu rühren. Seine Anwesenheit beraubte mir alle vernünftigen Gedanken und ließ die Geister meiner Vergangenheit neu aufleben. Es war schrecklich, dass ich jedem Menschen auf der Welt die gleichen Gräueltaten meines Vaters zutraute. Mein Instinkt verband jeden Mann mit Gewalt, was zu einem großen Krieg in mir drin führte. Instinkt gegen Kopf hieß es und oft gewann mein Instinkt.

Ganz langsam hob er seine rechte Hand und wischte mir eine Träne von der Wange. „Hey. Sam. Du brauchst doch keine Angst vor mir zu haben. Das weißt du doch, oder", flüsterte er und berührte nun mit seiner anderen Hand meinen Arm. Ein Zittern durchlief mich. Ganz sanft wanderten seine Hände zu meinem Rücken und zogen mich ruhig in eine Umarmung. All dies passierte wie in Zeitlupe. Jede Bewegung führte er mit Bedacht aus.
Zögerlich ließ ich es zu. Ich glitt in seine Umarmung und verlor mich in dieser. Er war tatsächlich hier. Er war real. Seine Arme ruhten auf meinem Rücken. Langsam schlang ich meine dünnen Arme um ihn und drückte mein Gesicht an seine Brust. Die Tränen liefen immer weiter und durchnässten sein blaues Shirt. Doch es störte ihn nicht. Sanft fuhr er mir durch die verknoteten Haare und sprach kein Wort. Er ließ einfach zu, dass ich mich ausheulte. Auch wenn er als menschliches Taschentuch dienen musste, ertrug er die Tränendusche mit Fassung. Es tat gut, einfach mal zu weinen. So viel war in letzter Zeit passiert und ich hatte mich verlassen gefühlt. Ich hatte immer Menschen um mich herum gehabt, aber trotzdem war ich einsam gewesen. Doch allmählich verließ mich das Gefühl der Einsamkeit.
Mir war, als würde er meine Panik spüren.
Mir war, als würde er mich verstehen.
Mir war, als würde ich nach Hause kommen.

Broken InsideWo Geschichten leben. Entdecke jetzt