22 Kapitel

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Samantha P.o.V.

Das erste Mal seit meinem Zusammenbruch betrat ich wieder unsere Wohnung. Es stank bestialisch nach chemischen Reinigungsmittel und Zitronen Dufterfrischer. Keine gute Kombination. Zögerlich betrat ich den Flur und zog sorgfältig meine Schuhe aus. Die Frauenschuhe waren verschwunden. Nichts erinnerte mehr an meinen Zusammenbruch. Außer vielleicht das erzwungene Lächeln auf meinem Gesicht als ich Damon sah. Dieser wollte mich herzlich umarmen, doch ich wich ihm aus.
Bloß keine Berührungen.
Das vor ein paar Stunden war eine Ausnahme gewesen. Ich hatte mich fallen gelassen. Für einen kurzen Moment hatte ich meine Deckung aufgegeben. Nun waren die Gespenster aber wieder da und spukten durch meinen Kopf. Erinnerungsfetzen jagten durch meinen Geist, wann immer sie eine Chance hatten und kontrollierten mich und meinen Körper. Ich selbst was nur Gast und durfte Handlungsvorschläge machen. Entweder gehorchte meine Muskeln oder nicht.
Mein Bruder ignorierte jedoch mein Zittern und schob mich bestimmend ins Wohnzimmer. „Wir müssen reden", entschied er. Sein ernster Tonfall verhieß nichts gutes. „Willst du dich nicht erst frisch machen? Ich will dir ja nicht zu nahe treten, aber du stinkst. Und wie du stinkst. Alter Schwede", wandte Damon ein und hielt sich leicht grinsend die Nase zu. „Das kann warten. Das hier ist wichtiger", hielt mein Bruder entgegen und setzte sich zu mir aufs Sofa. Sofort rückte ich ab, woraufhin er mich verletzt ansah. Damon sah man sein Unbehagen förmlich an. Zögerlich ließ er sich auf den schwarzen Sessel fallen und schaute unbeteiligt auf den Tisch. Wie gerne würde ich mit ihm den Platz tauschen. Wie gerne wäre ich jetzt ganz woanders.

„Sam." Die Stimme meines Bruders war ernst, weswegen ich ihn unsicher ansah. Eigentlich hatte ich nur auf die Moralpredigt gewartet, aber so wirklich wollte ich sie nicht erleben. Ein Blick zu Damon verriet mir, dass er sich genauso unwohl fühlte wie ich. „Ich hoffe, du bist dir die Konsequenzen deines Handelns bewusst. Du hattest nicht nur eine Fehlgeburt, nein du hast dir auch selbst extrem geschadet! Alkohol ist nie, wirklich nie, eine Lösung. Schon gar nicht auf leeren Magen und in solchen Mengen. Und ich hoffe, dass du mich auch nie wieder anlügen wirst! Was wäre, wenn du einen Unfall gehabt hättest? Ich hätte keine Ahnung gehabt, wo zur Hölle du steckst!" Seine Stimme wurde allmählich immer lauter. Damon sah ihn warnend an, doch er bekam es nicht mit. Genauso wenig bekam er mit, wie ich immer kleiner wurde. Moralpredigt hin oder her, er erinnerte mich extremst an unseren Vater. Sein breiter Oberkörper spannte sich an, seine Stimme würde immer härter und auch seine Aura veränderte sich. Sie wurde dunkler. Wütender.
„Verdammt Samantha! Sie wollten dich einweisen lassen, da du dir selbst Schäden zufügst. Und das Sorgerecht wollten sie mir auch entziehen! Siehst du, was dein Handeln für Konsequenzen hat?"

„Merkst du nicht, dass du mein ganzes Leben zerstörst?" Sein großer Körper plusterte sich immer mehr auf. Das schmale und kantige Gesicht war vor Wut knallrot angelaufen, während er erbost auf und ab ging. Mit ausdruckslosem Gesichtsausdruck saß ich auf dem Sofa und schaute ihm bei seinem Wutausbruch zu. Gott, er sollte sein Leben chillen. Nur weil er mich vom Polizeirevier hatte abholen müssen, musste er jetzt hier keinen Aufstand machen. Die Party war nur aus dem Ruder gelaufen. Das war noch lange kein Grund, mich hier anzuschreien. Mein Kopf dröhnte eh schon. „Dein Bruder hat nie solche Scheiße gemacht. Er wusste, was solche Taten für die Familie bedeuteten", ereiferte sich mein Vater. Ich hasste diese Schimpftiraden. Ich brachte unserer Familie nur Schande, während mein Bruder nahezu perfekt war. Alleine mein Aussehen war schon Schande. Reizend. Absolut reizend. Jede Tochter wollte mir ihren vierzehn Jahren vom eigenen Vater gesagt bekommen, dass sie eine Schande war. Klar, mit vierzehn landete man selten auf dem Polizeirevier, aber mein Gott. Jeder machte mal Fehler.
Seine flache Hand auf meiner Wange holte mich in die Gegenwart zurück. Mit aufgerissen Augen starrte ich das Monster vor mir an. Automatisch fuhr meine Hand hoch und berührte die brennende Wange. „Du hörst mir gefälligst zu, wenn ich mit dir rede", schrie er mich an. Speicheltopfen flogen mir ins Gesicht. Angewidert wich ich zurück, doch seine riesige Hand packte meine Haare und zerrte mich zurück. „Du hast absolut keinen Respekt."
Wow, das war die Feststellung das Jahrhunderts. Wer hatte schon Respekt vor ihm? Seine Schläge machten mir schon kaum noch was aus. Ich war es gewohnt.
Zu laut Musik gehört. Schläge.
Zu laut geatmet. Schläge.
Seine Regeln missachtet. Schläge.
Brüste bekommen und immer mehr zum Mädchen geworden. Schläge.
Ich sollte gefälligst mehr wie mein Bruder sein.
Seine Augen wurden zu schmalen Schlitzen, als er mein vor Schmerzen verzogenes Gesicht betrachtete. Mit seiner freien Hand fuhr er sanft meine Gewichtskonturen nach. „Weißt du was", fragte er mich mit plötzlich leider und sanfter Stimme. Fast schon liebevoll liebkoste er mein Gesicht und strich mir einige kurze Haarsträhnen zur Seite. „Ich werde dir jetzt mal ordentlich Respekt beibringen!"
Mit plötzlicher Geschwindigkeit zerrte er mich an meinen Haare zu Boden. Bevor ich mich aufrichten konnte, fixierte er mich mit seinem Fuß. Angst erfasste mich. Was zur Hölle hatte er vor? Sein Fuß drückte auf meinen Rücken und verhinderte eine Bewegung meinerseits. Das Geräusch einer Gürtelschnalle war zu hören. Entsetzt weitete ich meine Augen. „Vater", krächzte ich und sprach ihn somit zum ersten Mal an. „Wage es ja nicht, mich ohne Erlaubnis anzusprechen", drohte er mir. Sein Fuß verließ meinen Rücken. Bevor ich mich bewegen konnte, erfasste ein beißender Schmerz meinen Körper. Vor Schmerzen schrie ich unmenschlich laut auf und wollte weg kriechen, doch ich hatte keine Chance ihm zu entkommen. An dem Tag hatte ich ihm zum letzten Mal unterschätzt.

„Sam? O mein Gott. Basti, was ist mit ihr?" „Fuck. Woher soll ich das wissen?" „Ich glaube, du hast mit deiner Predigt etwas übertrieben...." „Was du nicht sagst!" „Hey. Sam. Alles wird gut." „Damon...sie zittert total." „Was du nicht sagst..."
Hände berührten mich und griffen nach mir. Sie retteten mich vor den Schlägen und zerrten mich aus der Vergangenheit zurück. Vollkommen aufgelöst schaute ich in die panischen Augen von Damon und Bastian. Als mein Bruder unsicher lächelnd seine Hand nach mir ausstrecken, wich ich so schnell zurück, dass ich vom Sofa fiel.
„Du nutzloses Stück!"
Er erhob sich und kam langsam auf mich zu.
„Das wird dir eine Lehre sein!"
Wimmernd umklammerte ich meine Knie. Die kühle Wand drückte gegen meinen Rücken und behinderte mich in meiner Flucht. „Er soll aufhören!" Mein Wimmern ließ meinen Bruder erstarren. Meine Fantasie spielte mir einen Streich. Die hässliche Visage meines Vaters war da, wo sonst das liebevolle und sanfte Gesicht meines Bruders war. Es war der Horror. Jetzt ließen mich die Gespenster der Vergangenheit sogar schon am Tag nicht zur Ruhe kommen. Ein Schatten fiel auf mich.
Der junger Mann mit den langen Haaren hockte sich vor mich. Damon. Mit beruhigender Stimme redete er auf mich ein. Immer wieder sprach er beruhigende Worte und kam näher auf mich zu. Panisch bewegte ich mich manisch vor und zurück. Mit großen Augen folgte ich seine Bewegungen. „Komm her Kleine. Ich helfe dir", lächelte er und streckte vorsichtig und ruhig seine Hand aus. Skeptisch sah ich ihn an, dann flüchtete ich in seine Arme. Starke Arme zogen mich aus den Fängen meines Vaters und holten mich zurück in die Realität, in welcher mein Bruder mich verletzt ansah.

Broken InsideWo Geschichten leben. Entdecke jetzt