69 Kapitel

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Samantha P.o.V.

„Und alles was ich sage, bleibt unter uns?" Die Frage stellte ich jedes Mal. Es war inzwischen eine Art Tradition, dass ich Lisa Summers immer diese Frage stellte. Ich bewunderte ihre Geduld, denn ich persönlich hätte mir schon längst eine geklatscht. Dennoch konnte ich nicht anders. Mein Misstrauen war einfach zu groß und jedes Mal befürchtete ich, dass sie meinem Bruder alles brühwarm erzählen würde. Ich musste anfangs einfach nur ihre Bestätigung für ihre Schweigepflicht hören, dann war alles gut. Auch heute lächelte sie mich offen an. „Natürlich. Ich gebe nichts ohne dein Einverständnis weiter", erklärte sie mir ruhig und geduldig. „Es sei denn, ich will mir das Leben nehmen und bla bla bla", vollendete ich ihre Aussage. Ein Schmunzeln trat auf ihr hübsches Gesicht. „Genau. Bla bla bla würde ich es zwar nicht nennen, aber ja. Würdest du etwas erzählen, was gravierende Folgen hätte oder dein Leben gefährden könnte, werde ich mit deinem Bruder Rücksprache halten." Grazil schlug sie die sportliche langen Beine übereinander und lehnte sich zurück. Naserümpfend richtete ich mich in meinem Stuhl etwas auf. Dieser Fakt mit meinem Bruder ging mir gehörig gegen den Strich.
Bald bist du ihn los.
Natürlich bemerkte sie meinen Missmut, sagte aber erstmal nichts. Sie hatte schnell die Erfahrung machen müssen, dass ich Fragen aus Prinzip abblockte und problemlos eine Stunde schweigend vor ihr sitzen konnte. Für mich machte es keinen Unterschied, ob ich sie anschwieg und sie redete oder ob ich was sagte und sie still zuhörte. Da sie aber eine Therapeutin war, hatte sie einen inneren Zwang mich zum Reden zu kriegen. Wenn es nach ihr gehen würde, hätte sie mir sicherlich gerne alle schlechten Gedanken aus dem Kopf genommen und irgendwo anders entsorgt. Das ging nur leider nicht.

„Ja also ne", fing ich wenig begeistert an und verzog das Gesicht. „Ja also ne", wiederholte sie und sah mich verwirrt an. „Meinen Bruder gehen unsere Gespräche nichts an", ergänzte ich. Auch diese Unterhaltung führten wir nicht zum ersten Mal. Fast jede zweite Woche versuchte ich der jungen Frau zu erklären, dass mein Bruder und ich nicht wirklich viel füreinander übrig hatten. Jedes Mal schürzte sie dabei nachdenklich die Lippen, hörte mir aufmerksam zu und stellte die gleichen dummen Fragen. Je nach Laune und Tagesform bekam sie von mir Antworten. Heute würde sie von mir aber auch nicht mehr viel zu hören bekommen, denn ich hatte ein Gespräch von Sonja und meinem Bruder mitbekommen. Ich war zur rechten Zeit am rechten Ort und alles ist rein zufällig passiert. Ich würde ja niemals an fremden Türen lauschen.
Wer's glaubt wird selig.
Jedenfalls war Damon wohl ziemlich schnell vor Gericht gerannt und nun musste die zuständige Psychologin, die gute Dr. Summers, eine Beurteilung meiner Lage schreiben. Und damit war jedes Wort von mir ein Wort zu viel. Wenn sie wollte, könnte sie jedes gesagtes Wort auf die Goldwaage legen und es drehen und wenden wie sie wollte. Dementsprechend konnte sie es getrost vergessen, dass ich mit ihr ein Gespräch führen würde. Ich war es leid, dass alle über meinen Kopf hinweg Entscheidungen trafen und mir immer nur die halbe Wahrheit erzählten. Ich würde mich selbst nicht als komplett zurechnungsfähig bezeichnen, aber zum mindestens hatte ich mehr Gehirnzellen als mein Bruder parat. Das war allerdings auch keine Kunst.

Anscheinend erkannte Lisa, dass heute kein guter Tag war. Statt zu schweigen, begann sie eine Rede über Vertrauen, Geschwister und schlechte Zeiten zu halten. Ab und an erwähnte sie auch, dass man in der Lage sein sollte, Menschen zu verzeihen. Ihre anschauliche und vielleicht sogar bewegende Rede endete damit, dass sie mir erklärte, dass ich bei ihrer Beurteilung Mitspracherecht hatte. Sie würde ja nie was reinschreiben, was mir schaden würde. Ich müsste nur mit ihr reden.
Das ich nicht lache.
Da ich gelernt hatte, dass in diesem Zimmer jede meine Bewegungen von Bedeutung war, machte ich eine Dreiviertelstunde lang nichts. Ich hörte ihr aufmerksamer zu als mir lieb war, starrte sie mit leerem Blick an und hing meinen Gedanken nach. Zehn Minuten vor Fünf gab Lisa auf. Die letzten zehn Minuten der Sitzung schwiegen wir uns verbittert an. Punkt fünf Uhr erhob ich mich, ergriff meine Jacke und ging zur Tür. Diese Sitzung war mal wieder sinnig gewesen. Trotzdem blieb ich vor der Tür stehen und gab mir einen Ruck. „Das mit meinem Bruder und mir...das ist nicht gut. Er leidet unter der Last und wohlfühlen tue ich mich auch nicht." Die Worte platzten einfach aus mir heraus. Überrascht über meine eigene Wortwahl und dem Gefühlsausbruch biss ich mir auf die trockene Unterlippe und wich ihrem aufmerksamen Blick aus. Sie seufzte und erhob sich ebenfalls. Elegant stolzierte sie auf ihrem hohen Schuhen zu mir rüber und legte die Hand auf die Türklinke. Ein trauriger Ausdruck lag kurz auf ihren Augen, doch ich könnte mich auch täuschen. „Ich werde das reinschreiben, was für dich am Besten ist", versprach sie sanft und sah mir eindringlich in die Augen. Ich nickte ihr hastig zu und verließ das Gebäude. Dank ihrer nichtssagenden Aussage war ich aufgewühlter als zuvor. Woher wollte sie bitte wissen, was für mich am Besten sein sollte?

Auf dem Parkplatz sprang ich in Lilys Auto. Ausnahmsweise durfte sie mich abholen. Den Luxusschlitten von neuen Mercedes hatte sie nachträglich zu Weihnachten bekommen und seitdem ging sie keinen Meter mehr zu Fuß. Auf der Rückbank lagen lauter Einkaufstüten. Anscheinend war sie sehr produktiv in der Stadt unterwegs gewesen. Schwerfällig fiel ich auf den Beifahrersitz und machte mir die Sitzheizung an. Die nasse Kälte draußen war einfach nicht meins. „Na. Sitzung überlebt oder schon in Gedanken den Strick um Hals gehabt?" Lilys Begrüßung beschrieb meine Gedankenwelt sehr gut. Dennoch zwang ich mir ein Lächeln auf die Lippen und schüttelte den Kopf. „Ich lebe noch und meine Psychotante auch. Keine Toten, versprochen. Weder gedanklich noch in der realen Welt", erwiderte ich mit hohler Stimme. Konzentriert lenkte die Brünette den großen Wagen auf die Hauptstraße und schnitt dabei den einen oder anderen Autofahrer den Weg ab. „Gott sei Dank. Ich hätte erst am Wochenende wieder eine Leiche beseitigen können." Hastig überholte sie einen schleichenden Autofahrer, hupte noch einmal demonstrativ und trat aufs Gas. Wenn einer der Jungs wüsste wie sie fuhr, würde ich nie wieder mit ihr mitfahren dürfen. „Außerdem hätte eine Leiche meinen Wagen voll gestunken und womöglich hätte ihr Blut mir noch den Kofferraum versaut." „Nicht auszumalen. Sowas wollen wir ja nicht", murmelte ich sarkastisch, während ich unauffällig meinen Sicherheitsgurt umklammerte. „Merke dir eins: Sorge immer dafür, dass niemand bei einem Mord als erstes an dich denkt. Fahr doch schneller, du scheiß Penner", brüllte sie los und drängelte trotz Schneematsch auf der Straße.
Gott stehe mir bei.
„Du musst immer unschuldig wirken und ein Alibi haben", fuhr sie fort und versuchte den Vordermann, welcher der Situation angemessen fuhr, mit Blicken zu erdolchen. „Was du nicht sagst." „Aber wenn du mal ein Fake-Alibi brauchst, nimm einen der Jungs. Meine Weste muss weiß bleiben", scherzte sie weiter. Gut das ich eh nicht vorhatte jemand anderen außer mich selbst umzubringen.

Broken InsideWo Geschichten leben. Entdecke jetzt