30 Kapitel

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Samantha P.o.V.

Heiligabend. Der Albtraum, der jedes Jahr wieder kam. Steif saß ich auf dem Stuhl neben meinen Bruder und beobachtete ihn und James. James Carter war so ziemlich das Gegenteil von meinen Vater. Sein dicker Bauch konnte auch von dem hässlichen rot-grün karierten Hemd nicht kaschiert werden und sein rundes Gesicht wurde von buschigen Augenbrauen geziert. Vermutlich war sein Kopf auch mal so stark behaart gewesen, doch inzwischen besaß er nur noch einen Kranz aus brauen Haaren. In der Mitte hatte eine Glatze angefangen sich heimtückisch auszubreiten. Er unterhielt sich lebensfroh mit Bastian. Je mehr er gestikulierte, desto mehr schwabbelte seine Wangen. Eigentlich ähnelte er eher an einen braunhaarigen Weihnachtsmann. Er wirkte harmlos, wäre da nicht seine laute Stimme. Sein Lachen hallte ewig im Wohnzimmer nach und wenn er ein Thema besonders aufregend fand, polterte er sofort los. Leise war anders.
Zur Begrüßung hatte er mich in eine leicht schwitzige Umarmung gezerrt, weshalb ich ihn sofort hasste. Körperkontakt war etwas, was ich auf den Tod nicht ausstehen konnte. Noch schlimmer war jedoch aufgezwungener Körperkontakt. Dementsprechend war ich froh, dass mein nervöser Bruder zwischen mir und dem nach Schweiß und Deo müffelnden Elefanten saß.
Sonjas Mutter dagegen war eine Schönheit wie sie im Buche stand. Wie Belle aus dem Disney Märchen besaß sie ein herzliches Lächeln und warme braune Augen. Ihre gewellten braunen Haare wurden von einem leichten Zimtgeruch umhüllt und sobald sie den Raum betrat musste ich schlucken. Sie besaß eine Eleganz, wie ich sie noch nie gesehen habe. Auch als sie jetzt den Raum betrat, glitt sie geradezu über den Boden. Leichte Lachfalten zierten ihr Gesicht. Sobald sie lächelte, bildete sich um ihren Mund kleine Fältchen. Genau wie die kleinen Falten auf der Stirn, ließen diese sie nicht alt erscheinen. Sie verdoppelten einfach nur ihr Lächeln. Sie hatte mich vorhin nur kurz am Arm berührt. Ihren sanften Augen entging nichts.

Auch jetzt stemmte sie ihre Arme in die Seite und fixierte die Jungs wütend. „Super toll, dass ihr euch über Sport unterhalten könnt. Aber könnt ihr euch auch einmal wie zivilisierte Menschen benehmen und euch in normaler Lautstärke unterhalten?" Das sie keine Engländerin war, merkte man ihr sofort an. Sie betonte die Worte auf ihre eigene spezielle Art, doch es wirkte nicht nervig. Es ließ sie eher noch jünger und unschuldiger wirken. Dennoch verfehlte ihre Worte ihre Wirkung nicht. Augenblicklich wurden die Männer still und sahen sich beschämt an. „Mary denkt, dass ich mich nicht zivilisiert verhalten kann. Sie schämt sich für mich. Deshalb haben wir nie Gäste", erklärte James mir augenzwinkernd. „Und dein Stimmenvolumen ist der Grund, weshalb ich nie jemanden einladen muss. Selbst die Menschen, die zwei Straßen weiter wohnen, können dich hören", wies sie ihn lächelnd zurecht und drückte ihm einen sanften Kuss auf die dicke Wange. Er verdrehte lächelnd die Augen und strich ihr beinahe beiläufig über die dichten Haare. „Und eure nervtötende Romantik ist der Grund, weshalb ich kaum noch hier bin", lachte Sonja und stellte einen Brotkorb und eine Palette mit geräucherten Lachs auf den bereits überfüllten Tisch. Ihre braunen Rehaugen blickten mich warmherzig an, doch ich entzog mich ihrem Blick und schenkte mir lieber etwas Wasser zu trinken ein. „Du und Basti seid doch genauso schlimm", neckte ihre Mutter sie liebevoll und setzte sich mir gegenüber. Sonja ließ sich anmutig auf den Stuhl gegenüber von Basti fallen und lächelte ihn verliebt an. James, welcher am Kopfende des prachtvoll geschmückten Tisches saß, verdrehte erneut die Augen. „Also ich hab Hunger", verkündete er vergnügt und nickte jedem von uns einmal zu. „Tischgebete lassen das Essen kalt werden. Und das wäre echt schade um das leckere Essen." „Ladys und Gentleman, darf ich vorstellen: mein Mann. Der geborene Romantiker", schmunzelte Mary. Sie schüttelte leise lachend den Kopf und reichte mir eine warme Toastscheibe. Butter und Lachs fanden wie von alleine ihren Weg auf unsere Teller und wie ein Spatz begann ich die Vorspeise zu vernichten. Die anderen langten großzügig zu, während ich nur eine Scheibe herunter würgte. Gespräche wurden eher nicht geführt. Aus den kurzen Wortwechseln hielt ich mich zurück. Lieber starrte ich meinen Teller oder den Weihnachtsschmuck an.
Mit denen musste man nicht reden.

Mein Bruder entschied sich dafür, heute mal sozial zu sein. Bereitwillig räumte er den Tisch ab, wobei der Bonus darin bestand, mich zurückzulassen und ein paar Minuten mit Sonja alleine zu verbringen. Während die Turteltäubchen die Küche für sich alleine hatten, fühlte ich mich wie ein Kaninchen in der Falle. Mary war die geborene Gastgeberin. Andauernd bot sie mir Sachen an und ließ mich nie alleine. Aufmerksam trank sie ein Schluck Rotwein, dann lächelte sie mich an. „Also Samantha. Wie findest du England?" Desinteressiert zuckte ich mit meinen schmalen Schultern. „Nass", war das einzige Wort, welches meine Lippen verließ. Sie nahm es mir nicht übel. Stattdessen lachte die erwachsene Belle glockenhell auf. „Das ist es definitiv. Anfangs fand ich es auch eher trostlos und nass, aber selbst England kann schöne Tage haben", erklärte sie mir und zwinkerte mir zu. „Die sind selten, aber sie existieren", pflichtete ihr Mann ihr lautstark bei. „Manchmal haben wir hier im Sommer über 30 Grad", erklärte Mary und ihre Augen leuchteten begeistert auf. So traurig es auch klang, aber wir führten gerade eine Unterhaltung über das Wetter. Also die Erwachsenen redeten.
Ich schwieg.
„Und? Was fehlt dir hier am meisten", lenkte Mary das Gespräch wieder zu mir zurück. Wieder zuckte ich mit den Schultern, strich mir eine Locke nach hinten und versuchte kurz über ihre Frage nachzudenken. „Wahrscheinlich deine Freunde oder?" Gut, dass sie die Gespräche auch alleine führen konnte.
Welche Freunde?
Da ich keine Lust auf irgendwelche Erklärungen oder irgendwas anderes hatte, nickte ich. „Es muss echt hart sein, so viele Kilometer voneinander getrennt zu sein", redete Mary belanglos weiter. „Du kannst sie ja zu euch einladen", schlug ihr Mann vor. Seine kleinen Augen musterten mich freundlich, doch blieb ihm gegenüber misstrauisch. „Ach James. Sowas geht nicht so einfach. Die Flüge sind heutzutage extrem teuer und die armen Kinder haben weder das Geld noch die Zeit für so einen zeitaufwändigen Kurzurlaub", rügte sie ihren Mann. Ich nickte wieder nur stumm. Weihnachten war ich immer schon die perfekte Marionette gewesen und somit konnte ich meine Fähigkeiten heute super unter Beweis stellen.

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